
27 Jun Ein Angriff auf die körperliche Selbstbestimmung
Jahrzehntelang waren Schwangerschaftsabbrüche in den USA durch ein Grundsatzurteil abgesichert. Nun wurde diese Entscheidung gekippt.
Das Recht auf Abtreibung wurde in den USA nach fast 50 Jahren abgeschafft – so lautet die Entscheidung des Obersten Gerichtshof. Die Mehrheit der US-Amerikaner*innen wird ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung verlieren.
Das seit 1973 geltende Grundsatzurteil Roe v. Wade regelte bisher für alle Staaten einheitlich, dass Schwangerschaftsabbrüche etwa bis zur vierundzwanzigsten Schwangerschaftswoche legal seien. Nun liegt die Regulierung von Abtreibungen wieder in der Hand der Bundesstaaten, die selbst entscheiden können, ob sie Abtreibungen weiterhin erlauben, einschränken oder verbieten.
Verbote in der Hälfte der Staaten
In 26 von 50 Bundesstaaten werden Schwangerschaftsabbrüche nun verboten sein. Einige Staaten haben sogenannte „Trigger-Laws“ vorbereitet, die in Kraft treten sollten, sobald Roe v. Wade gekippt wird. Sieben Staaten haben bereits am selben Tag Abtreibungsverbote verkündet – auch bei Vergewaltigungen und Inzest.
Einige liberale Staaten, darunter New York und Kalifornien, haben angekündigt, das Recht auf Abtreibung schützen zu wollen und ihre Abtreibungskliniken für ungewollt Schwangere aus anderen Staaten aufzustocken.
Abtreibung wird zur Klassenfrage
Für einen Schwangerschaftsabbruch in einen anderen Staat zu reisen, ist aber nicht allen möglich, denn das muss man sich leisten können. Das Urteil trifft also manche mit noch mehr Härte als andere.
Arme Menschen, die ohnehin schon einen schlechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung und Verhütungsmitteln haben, werden gezwungen sein, sich lokal jemanden zu suchen, der illegal eine unsichere Abtreibung durchführt. Oft wird es dabei zu Komplikationen kommen, viele der Schwangeren werden sterben. Besonders häufig betroffen werden ohnehin schon marginalisierte Personengruppen sein, Schwarze, Indigene und queere Menschen, die besonders häufig unter Armut leiden. Auch Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen werden besonders von dieser Entscheidung betroffen sein.
Keine körperliche Selbstbestimmung für trans Jugendliche
Die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung ist im Kontext eines Aufschwungs rechter und antifeministischer Politik in den USA zu sehen. Die körperliche Selbstbestimmung soll nicht nur ungewollt Schwangeren entzogen werden, auch die Rechte von trans Personen sollen eingeschränkt werden.
Zum Teil werden sie das bereits: In zahlreichen Bundesstaaten wurden Gesetzesentwürfe eingebracht oder, wie in Alabama, sogar schon umgesetzt, die trans Kindern und Jugendlichen den Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen verbieten. In Florida wurde ein Gesetz verabschiedet, das es bis zu einem gewissen Alter verbietet, über sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität im Unterricht zu sprechen.
Diese Angriffe auf die Rechte von Frauen, trans und queeren Menschen hängen zusammen und müssen gemeinsam bekämpft werden. Denn bei der Abschaffung des Rechts auf Abtreibung bleibt es möglicherweise nicht: Clarence Thomas, Richter des Supreme Court, schrieb in seiner Stellungnahme zum Urteil Roe v. Wade, dass die Urteile Griswold, Lawrence und Obergefell ebenfalls überdacht werden sollten. Dabei handelt es sich um das Recht auf die Verwendung von Verhütungsmitteln, das Recht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr und das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe.
Die Demokraten werden uns nicht retten
Während unzählige Menschen in den USA gegen das Urteil demonstrieren, nutzen die Demokraten es, um Wahlwerbung für sich zu machen: Mit einer deutlichen Mehrheit bei den Kongresswahlen im November könnten sie ein Gesetz verabschieden, um das Recht auf Abtreibung gesetzlich festzuschreiben. Nun stellt sich die Frage: Warum ist das bisher nicht geschehen?
Obama hatte während seiner Amtszeit acht Jahre Zeit, um das Recht auf Abtreibung gesetzlich zu verankern. Im Jahr 2007 behauptete er Planned Parenthood gegenüber, das erste, was er als Präsident tun würde, sei es, ein Gesetz zu unterzeichnen, das Roe v. Wade in nationales Recht festschreiben würde. Auch Biden schrieb 2019 bei Twitter, dass er als Präsident das Urteil zu einem Gesetz machen würde.
Diese falschen Versprechungen der Demokraten lassen nicht darauf schließen, dass sich durch ihre Wiederwahl im November wirklich etwas ändert. Mehr als heuchlerische Bestürzung und leere Phrasen ist von ihnen im Kampf um die Rechte von Frauen und queeren Menschen nicht zu erwarten. Vielmehr ist das Recht auf Abtreibung für sie ein wirksames Druckmittel, Menschen dazu zu bewegen, sie zu wählen.
Bitte nur gewaltfreier Protest gegen Gewalt
Präsident Biden betonte in seiner Rede zur Entscheidung des Supreme Court, dass die Proteste friedlich bleiben sollen, weil Gewalt nie akzeptabel sei. Diese Aufforderung ist zynisch und unterdrückt den Tatbestand, dass die Gerichtsentscheidung massive systemische Gewalt gegen viele ungewollt Schwangere bedeutet. Das kann nur als Verhöhnung derer bezeichnet werden, die unter dieser Gewalt leiden.
Für Ärzt*innen, die in den USA Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und für das Personal von Abtreibungskliniken stehen Bedrohungen und gewalttätige Blockaden sowie Stalking durch Abtreibungsgegner*innen an der Tagesordnung. Im letzten Jahr ist die Zahl von Angriffen gegen Abtreibungskliniken massiv gestiegen. Und nun wird mehr als der Hälfte der Frauen und queeren Menschen in den USA die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper versagt. Das Gewaltmonopol des Staates zwingt sie, eine ungewollte oder durch Gewalt entstandene Schwangerschaft durchzustehen. Für viele Menschen bedeutet diese Entscheidung den Tod.
Wenn Schwangerschaftsabbrüche verboten werden, heißt das nicht, dass sie nicht mehr stattfinden, sondern nur, dass sie auf unsicherem Weg stattfinden. Wenn ein sicherer und legaler Abbruch nicht möglich ist, müssen sich die Betroffenen mit lebensgefährlichen Methoden behelfen: Laut der WHO finden 45 Prozent aller Abtreibungen weltweit unsicher statt.
Das alles ist Gewalt.
Deutschland schafft §219a ab: eine Errungenschaft für reproduktive Rechte
In Deutschland wurde am selben Tag, an dem Roe v. Wade gekippt wurde, der Paragraph 219a abgeschafft. Das sogenannte „Werbeverbot“ für Abtreibungen, das aus der Nazizeit stammt, hatte Ärzt*innen verboten, Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitzustellen. Seine Abschaffung ist eine große Errungenschaft für feministische Aktivist*innen und Ärzt*innen, die seit Jahren gegen den Paragraphen gekämpft haben.
Für eine gesicherte Gesundheitsversorgung von ungewollt Schwangeren kann das aber nur der Anfang gewesen sein. Der noch bestehende Paragraph 218 des Strafgesetzbuchs kriminalisiert Schwangerschaftsabbrüche. Nur unter bestimmten Voraussetzungen ist die Strafverfolgung ausgesetzt. Dieser diskriminierende und gesundheitsgefährdende Paragraph muss abgeschafft werden, damit Frauen und queeren Menschen die vollen Rechte über ihren Körper zugestanden werden.
Abtreibungsgegner*innen sind nicht „für das Leben“
Es scheint fast überflüssig zu betonen, aber: Bei dem Verbot des Rechts auf Abtreibung geht es nicht um die Rechte von Kindern oder von Müttern. Es geht nicht um das Recht auf Leben. Das Verbot verhindert ein selbstbestimmtes Leben von Frauen und queeren Menschen und kann Leben bei unsicheren Abtreibungen kosten. Würde sich der Supreme Court wirklich um das Leben scheren, hätte er nicht vor wenigen Tagen eine gesetzliche Einschränkung des Rechts auf den Besitz und das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit wieder aufgehoben, sondern würde etwas dafür tun, die unzähligen Amokläufe zu verhindern.
Bei der Entscheidung geht es um die Kontrolle und Unterdrückung von weiblichen und queeren Körpern. Dagegen müssen wir uns wehren. Wir müssen uns die Rechte erkämpfen, für die wir schon seit über hundert Jahren kämpfen.
Emma Rotermund studiert Soziologie und Deutsche Literatur in Freiburg. Für die critica schreibt sie unter anderem über Feminismus und psychische Gesundheit.