Schlacht um die Meinungsfreiheit – Deutsche Unis und die Palästinasolidarität

Hauswand mit einem Plakat der israelischen Geiseln und dem Graffiti "Free Palestine" darunter

Schlacht um die Meinungsfreiheit – Deutsche Unis und die Palästinasolidarität

In Deutschland ist an Hochschulen ein Kampf um Meinungsfreiheit entstanden, da pro-palästinensische Aktivist*innen mit extremer Repression und Zensur konfrontiert sind. Deutschlands bedingungslose ideologische, militärische und ökonomische Unterstützung Israels werden von Studierenden zunehmend in Frage gestellt – entgegen dem Antisemitismusvorwurf und den Repressionen. An mehreren Universitäten organisieren sich Studierende, veranstalten Sit-Ins, Proteste und Bildungsveranstaltungen, um Perspektiven und Wissen zu teilen.

Deutsche Universitäten haben sich im Zuge des 7. Oktobers und der israelischen Bombardierung und Bodenoffensive in Gaza zumeist wenig ausgewogen geäußert. Als Antwort auf die undifferenzierte Positionierung kam es in den letzten Monaten vermehrt zu studentischen Protesten. Pro-Palästinensische Studierende sind seither noch mehr als zuvor an deutschen Universitäten extremen Repressionen und Zensur ausgesetzt.

Offiziell begründet wird dies mit Hilfe des vermeintlichen Kampfes gegen Antisemitismus. Werkzeug, um den Vorwurf des Antisemitismus aufrechtzuerhalten, ist die Instrumentalisierung der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Kenneth Stern, 2004 federführend in der Formulierung der IHRA-Arbeitsdefintion, erklärt, die Definition sei geschaffen worden, um Regierungen bei der Erhebung von Daten über Antisemitismus zu unterstützen. Die Definition »wurde nicht entworfen und war nie als Instrument gedacht, um die Rede auf einem College-Campus ins Visier zu nehmen oder zu unterbinden«. Im September 2017 billigte die deutsche Bundesregierung die IHRA-Arbeitsdefinition, die Antizionismus mit Antisemitismus vermengt. Im Dezember 2020 forderte Stern die Regierung Biden auf, die IHRA-Arbeitsdefinition nicht anzunehmen, da sie als Waffe missbraucht werde, um Kritik am Zionismus zum Schweigen zu bringen. Im Rahmen der Ersten Deutsch-Israelischen Studierendenkonferenz initiierten unter anderem das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, die Jüdische Studierenden Union Deutschland und der Freie Zusammenschluss von Student*innenschaften (fzs) in einer »Resolution gegen BDS und jeden Antisemitismus« die Übernahme der IHRA-Definition. Nach dem rechtsextremen antisemitischen Attentat von Halle im Jahr 2019 übernahm auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) die Arbeitsdefinition und betonte ausdrücklich, dass sie sie an allen Mitglieder-Hochschulstandorten etabliert sehen möchte. Dies führte dazu, dass die Mehrheit der deutschen Universitäten eine zunehmend unkritische Haltung gegenüber dem Staat Israel einnahm. Mittels dieser Arbeitsdefinition sind vor allem kritische palästinensische, jüdische, israelische sowie arabische Studierende und Forschende Repression, Diskriminierung und Verleumdung ausgesetzt.

Repressionen wohin das Auge blickt

Die Beispiele sind endlos: Am 2. November fand eine Gedenkfeier für einen palästinensischen Studenten der Universität Kassel statt, der zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn in Gaza getötet wurde. Die Präsidentin der Universität, die an der Trauerfeier teilnahm, beendete die Gedenkfeier und schaltete die Mikrofone aus, als ein Redner begann, über die aktuelle Situation in Gaza durch die Bombardierung Israels zu sprechen.

Ebenfalls im November gründeten Studierende der Universität der Künste Berlin die Gruppe notinournameUdK, die zu wöchentlichen Streiks der Studierenden aufrief.  Es solle auf die Situation in Gaza aufmerksam gemacht und ein dauerhafter Waffenstillstand gefordert werden. Genauso sollte es die Möglichkeit geben, zu trauern. In Berichterstattungen wurde die Gruppe als »Pro-Hamas« diffamiert – sie wolle gegen jüdische und israelische Studenten hetzen. Ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieb die Studentendemonstration als »laut, aggressiv und beängstigend«, und behauptete die Beteiligten wollten »das gesamte Universitätssystem, wenn nicht sogar den gesamten deutschen Staat stürzen«. Die in roter Farbe bemalten Hände der jungen Menschen wurden als Verweis auf den »Lynchmord vom Oktober 2000« an zwei israelischen Reservisten uminterpretiert, anstatt die naheliegendere Symbolik für die deutsche Beteiligung am Völkermord in Gaza in Betracht zu ziehen.

Der anerkannten Forschungseinrichtung Forensic Architecture wurde ihre Veranstaltung an der RWTH Aachen durch den Rektor der Universität untersagt. Über 200 Studierende und Dozierende unterzeichneten daraufhin einen offenen Brief, in dem sie die Absage der Veranstaltung als Verletzung der akademischen Freiheit und des Rechts auf freie Meinungsäußerung verurteilten. Als Begründung für die Absage wurde unter anderem die Beschwerde jüdischer Studierender genannt, die sich auf eine BDS-Unterstützung seitens des Gründers von Forensic Architecture, selbst Israeli, beriefen.

Im Dezember versuchten die Students for a Free Palestine, ein Zusammenschluss von Studierenden aller Glaubensrichtungen, an der FU Berlin einen Hörsaal zu besetzen, um gegen die Haltung der Universität zu Palästina und Israel zu protestieren. Ziel der Besetzung war es »ein sicheres Umfeld für das Lernen, den Austausch und die Vereinigung gegen den andauernden Völkermord zu schaffen«. Die Aktion wurde von Personen gestört, die sich gegenüber den Protestierenden aggressiv verhielten, Studierende körperlich angriffen und Plakate von ermordeten palästinensischen Kindern herunterrissen. Die Angreifer inszenierten sich im Nachgang als Opfer, denen auf Grund ihrer jüdischen Identität statt ihrer menschenverachtenden politischen Haltung der Zutritt zum Hörsaal verwehrt worden wäre. Die Universität rief schließlich die Polizei, und über 100 Beamte führten die an der Besetzung beteiligten Studierenden gewaltsam ab.

Eine weitere Stufe der Eskalation stellte die Entscheidung der Universität Köln dar, einem Studierenden ein Hausverbot für zwei Tage im Januar dieses Jahres auszusprechen. Hintergrund des Hausverbots war der Auftritt des israelischen Botschafters Ron Prosor, der von der Universität im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Gespräche zu Recht und Staat« eingeladen wurde. Laut Rektor sei zu befürchten, dass der Student bei der Veranstaltung »den vorgesehenen Veranstaltungsrahmen zugunsten von verbalen oder körperlichen Aktionen überschreiten könnt[e]«, weswegen es ihm rechtlich untersagt wurde, sich an der Universität aufzuhalten. Als Beweise für die angeblich ausgehende Gefahr wurden Instagram-Posts verwendet, die er likte oder in seiner Story teilte.

Exmatrikulation als Mittel der Wahl

Der jüngste Höhepunkt der politisch motivierten Repression ist der Beschluss der 73. Mitgliederversammlung des fzs in Erfurt Anfang März mit dem Titel »Aufforderung an die Hochschulleitungen gegen Antisemitismus vorzugehen und Juden:Jüdinnen vor Übergriffen zu schützen«. Dieser Antrag widmet sich formal dem Kampf gegen Antisemitismus, ist aber in seiner politischen Intention klar gegen alle Personen, Organisationen und Wissenschaftler*innen gerichtet, die sich kritisch zum Krieg und dem andauernden Genozid in Gaza äußern. Erneut dient die vom fzs verwendete IHRA-Antisemitismusdefinition dazu, Personen, die die deutsche oder die israelische Regierung für ihre menschenverachtende Politik kritisieren, als Antisemit*innen zu brandmarken. Dazu passend äußerte sich der Berliner Senat zu Plänen, das Hochschulgesetz des Bundeslandes zu verschärfen, mit dem Ziel, Exmatrikulationen als Ordnungsmaßnahme wieder einzuführen. Der bundesweit aktive Studierendenverband Die Linke.SDS und die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost lehnten diesen Angriff in einer Pressemitteilung entschieden ab. Ortsgruppen von Die Linke.SDS mussten in der Vergangenheit mit dem Entzug von universitären Räumen für selbst organisierte Bildungsveranstaltungen zum Thema Israel/Palästina und Deutschlands Nahostpolitik kämpfen. 

Beamte und Politiker*innen wissen sich offensichtlich nicht weiter zu helfen, wie sie mit der wachsenden Palästina-Solidarität unter den Studierenden umgehen sollen, die Deutschlands bedingungsloses Engagement für den Staat Israel in Frage stellen. Die Repression, Raumnahme und Brutalisierung der politischen Realitäten an Universitäten schaden allen: Steigender Rassismus und Antisemitismus sind die Konsequenz. Alle Studierenden tragen Verantwortung dafür, von Rassismus und Antisemitismus betroffene Kommiliton*innen, effektiv vor Diskriminierung zu schützen. Aus diesem Grund ist es für palästinasolidarische Studierende unerlässlich, die Forderung zu stellen, die IHRA-Definition durch die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus zu ersetzen.

Jüdisches Leben in Deutschland muss ohne Diskussion geschützt werden. Dies darf jedoch nicht für die rassistische Politik Deutschlands und seine imperialistischen Ambitionen instrumentalisiert werden. Insbesondere ist diese Hetze gegen palästinasolidarische Studierende kein Beweis dafür, dass Deutschland aus seiner Vergangenheit gelernt hat. Während über 93 Prozent der zuordbaren antisemitischen Gewalt von Neonazis ausgeht, wird in dem Land, in dem die faschistoide AfD erstarkt, eine kollektive Schuld auf migrantische Menschen projiziert, die Antisemitismus nach Deutschland gebracht hätten. 

Inmitten der Rufe nach »Remigration« oder »Abschiebungen im großen Stil«, sollten Studierende, die sich für Menschenrechte, Freiheit und Leben unabhängig von Ethnie und Konfession einsetzen, der Beweis sein, dass »Nie wieder« keine leere Floskel bleibt, sondern universell gilt. 

Shirin hat bis vor kurzem in Leipzig studiert, wo sie beim SDS aktiv war, und ist jetzt bei Sozialismus von unten. organisiert.