10 Jan Was sozialistische Politik heute bedeuten kann
Es gibt viele offene Fragen auf unserem Weg zum Systemwechsel. Aber wir müssen trotzdem nicht bei null anfangen. Lukas und Jary werfen einen Blick auf Ideen von Karl Marx und stellen drei Grundpfeiler vergangener wie zukünftiger sozialistischer Politik vor.
Mit den meisten unserer Kommiliton*innen muss man nicht lange diskutieren, wenn es um die Frage geht, ob sich etwas verändern muss. Die globale Pandemie und Überschwemmungen als Ausdruck einer sich weiter verschärfenden Klimakatastrophe haben die Dringlichkeit eines Systemwechsels verdeutlicht. Auch der Druck in Schule und Studium, die Unsicherheit bezüglich der eigenen Zukunft oder die Bedrohung von rechts tragen ihren Teil dazu bei, dass eine Mehrheit von jungen Menschen grundlegende Veränderung für notwendig hält.
Kein Wunder also, dass wir in den letzten Jahren, bundesweit wie global, in großer Zahl gegen eben jene Zustände auf die Straße gegangen sind. Angefangen bei zahlreichen Demonstrationen gegen die AfD, über die großen Mobilisierungen zum feministischen Streik am 8. März und #BlackLivesMatter bis hin zur größten Jugendbewegung in der Geschichte: Fridays For Future. Mittlerweile hat eine neue Protestgeneration die politische Bühne betreten. Mit und innerhalb derselben hat auch der Begriff des „Sozialismus“ neue Beliebtheit erfahren. Gefüllt wird er dabei mit ganz verschiedenen Bedeutungen: Mit Gerechtigkeit und Umverteilung, mit Revolution und Widerstand, mit kleinen Reformen und großen Umstürzen. Hoffnung liegt bei den einen in den politischen Parteien links der Mitte, bei den anderen jenseits der Parlamente.
Mit der „Generation Greta“ ist ein Aufschwung sozialistischer Politik möglich. Die Anleitung dafür liegt jedoch nicht fertig in der Schreibtischschublade. Eine sozialistische Politik unserer Zeit und unserer Generation müssen wir erst noch gemeinsam entwickeln. Die gute Nachricht: Wir müssen nicht bei null anfangen. Wir können aus vergangenen politischen Bewegungen und Protesten lernen – und auch von Karl Marx.
Alles verbunden, alles veränderbar
Eine Gesellschaft, die von Armut, Sexismus und Rassismus geprägt ist, und ein Planet am Abgrund. Nicht leicht da den Überblick zu behalten. Auch wenn häufig Gegenteiliges behauptet wird, reduzieren Sozialist*innen die Übel der Welt nicht auf eine einzige Ursache oder leiten sie aus einer einfachen Tatsache ab. Stattdessen versuchen Sozialist*innen sie in ihrer Systematik, in ihrem Verhältnis zueinander zu begreifen. Schon Marx formulierte den kategorischen Imperativ, dass alle Verhältnisse umzuwerfen seien, in denen der Mensch ein „erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Der vielleicht wichtigste Gedanke von Marx war der, dass die Geschichte von Menschen gemacht wird. Alles ist dadurch miteinander verbunden, dass letztlich alle Verhältnisse Ergebnisse der Tätigkeit von Menschen sind. Und wenn selbst der gegenwärtige, umweltzerstörende Kapitalismus menschengemacht ist, dann ist er auch und mit ihm die ganze Welt veränderbar.
Der sozialistische Blick auf Gesellschaft nimmt diese in ihrer Gesamtheit in den Blick, ohne Details zu vernachlässigen – und so sollte es auch sozialistische Politik tun. Sie unterstützt, entwickelt und initiiert Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse. Egal, ob es darum geht, dass eine Busfahrerin mehr Lohn fordert, eine muslimische Frau mit Kopftuch ihren Job ausüben will oder einem jungen Trans*Mann keine Steine mehr in den Weg gelegt werden sollen. Dabei stellt die sozialistische Politik stets das Gemeinsame und das Grundsätzliche in den Vordergrund. Sie will jedes dieser Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse überwinden. Dafür ist eine grundlegende Veränderung der Art und Weise, wie wir produzieren und leben, notwendig.
Ein Projekt der Mehrheit
Sozialistische Politik ist jedoch nur als Bewegung einer Mehrheit denkbar. Das hat mehrere Gründe. Zunächst gibt es einige sehr mächtige Menschen, die von der Architektur unserer Gesellschaft profitieren. Sie – die besitzende Klasse – werden sich nicht durch Argumente davon überzeugen lassen, dass sie ihr Vermögen und ihre Macht abgeben. Es braucht gesellschaftliche Mehrheiten, die bereit sind, sie durch Druck dazu zu zwingen. Gleichzeitig müssen wir erst gemeinsam erlernen, wie eine radikal demokratische Gesellschaft funktionieren könnte. Die Menschen machen ihre Geschichte, aber unter vorgefundenen Bedingungen und nicht aus freien Stücken, wie Marx schrieb. Wir sind Teil der Übel dieser Welt und nur in der kollektiven Erfahrung von Solidarität und Kooperation können wir den ganzen alten Dreck loswerden, mit dem wir aufgewachsen sind.
Für sozialistische Politik folgt daraus, dass sie Veränderung erfahrbar machen muss. Sie muss darauf setzen, auch kleine Auseinandersetzungen um Tarifverträge, Studienbedingungen oder Gesetze zu gewinnen. Und wir gewinnen nicht (allein) durch den Mut und das Geschick Einzelner, sondern durch die Macht der Vielen, die als Handelnde die Bühne der Geschichte betreten und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sozialistische Politik braucht keine Märtyrer*innen, die im Namen aller anderen kämpfen. Sozialistische Politik strebt die Selbstermächtigung der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse an. Sie will Mehrheiten organisieren, die bereit sind, Konflikte zu führen und zu gewinnen.
Die Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt
Jahrzehnte des Neoliberalismus haben unsere Vorstellungskraft einer anderen Welt stark in Mitleidenschaft gezogen. Doch gerade diese brauchen wir, um uns zu motivieren, aktiv zu werden. Der system change ist zwar populärer geworden. Dennoch sind wir an einem Punkt, an dem wir hoffen müssen, dass es uns nicht schlechter geht, statt optimistisch auf Verbesserungen zu blicken. Unsere Vision einer neuen Gesellschaft gilt es deshalb, mit Leben zu füllen. Gleichzeitig verfolgt sozialistische Politik nicht einfach ein fertiges Programm, dem man sich anschließen kann. Der „Kommunismus“, so Marx und Engels im Manifest, ist „nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“
Sozialistische Politik ist folglich nicht das Projekt einer Mehrheit, die bestimmten Ideen zustimmt, sondern einer Mehrheit, die anfängt, die Gesellschaft selbst zu gestalten und ihre Vision der anderen Welt in der Auseinandersetzung um diese entwickelt.
Und wir?
Im SDS wie auch an vielen anderen Orten versammeln sich immer mehr junge Menschen, die davon überzeugt sind, dass eine andere Welt nötig und möglich ist. Für den Versuch, eine sozialistische Politik unserer Zeit und Generation zu entwickeln, eignen wir uns Erfahrungen aus vielen Jahrzehnten sozialistischer Bewegung an. Diese Tradition ist keine Agenda, die kopiert werden soll oder kann. Stattdessen kann sie als Erfahrungsschatz und Gedächtnis derjenigen dienen, die vor uns versucht haben eine radikal demokratische Gesellschaft durchzusetzen. Mit Blick auf den Klimawandel wird es langsam höchste Zeit, dass uns dieser Versuch gelingt.
von Jary Koch und Lukas Geisler