03 Feb Das I-Wort. Auf dem Weg zu einer materialistischen Identitätspolitik
In der Serie „The L-Word“ werden im Intro diverse L-Wörter aufgezählt, wie zum Beispiel „Loving“, „Laughing“, „Living“. So weit so straight, aber das eigentliche L-Wort, um welches sich die Serie dreht, wird nicht genannt – nämlich „Lesbianism“. Die Serie hat versucht, eine Art lesbisches „Sex and the City“ zu sein, in der attraktive, gutverdienende Frauen von Mitte 20 bis Anfang 30 lesbischen Sex haben und andere Dramen im Leben durchlaufen. Damit war die Serie war ein Meilenstein in lesbischer Repräsentation. So wie das Intro von „The L-Word“, hat auch die gesellschaftliche Linke ein Wort, welches sie nur ungern nennt: Das I-Wort.
Identitätspolitik wird von vielen (meist Cis- und/oder Hetero-) Marxisten widerwillig behandelt, weil sie darin Ablenkung vom Klassenkonflikt sehen oder weil sie andere Thematiken als wichtiger erachten. Gerne wird es als Stichwort vage allem entgegengeworfen, was einem generell nicht gefällt. Wenn man dann mal nachfragt, was mit Identitätspolitik eigentlich gemeint ist, fällt die Antwort meist recht ausweichend aus. Also fangen wir von vorn an.
Der Begriff Identitätspolitik wird das erste Mal 1978 im „Black Feminist Manifesto“ der Gruppe Combahee River Collective verwendet, welche aus Schwarzen, proletarischen Lesben bestand. Identitätspolitik bildet für sie die „Grundlage für den Fokus auf unsere eigene Unterdrückung“. Dies mag man als Egoismus, als Politik der ersten Person abtun. Im historischen Kontext, einem von weißen Frauen der Mittelklasse geprägten Feminismus und einer männlich dominierte Schwarzen Bewegung der 1970er Jahre, ist dieser Fokus eher ein Hilfeschrei nach politischer Beachtung als Egoismus.
Diese Nichtbeachtung erfahren marginalisierte Personen auch in unserer politischen Organisierung im 21. Jahrhundert. Auch heute finden sich in feministischen (Arbeits-)Gruppen vor allem Frauen und weibliche Personen. Bei Männern reicht es meistens nur für lackierte Fingernägel und dass sie ab und an über ihre Gefühle sprechen, was sie dann „kritische Männlichkeit“ nennen. Außerdem sind unsere Gruppen von weißen Menschen dominiert, welche häufig blind für antirassistische Themen und Praktiken sind. Von queeren Themen ganz zu schweigen.
Solidarität statt Spaltung
Aus ihrer Erkenntnis der Nichtbeachtung ziehen die Feminist*innen des Combahee River Collective aber nicht dieselben Schlüsse wie viele radikale Feminist*innen und Schwarze Aktivist*innen der 1970er Jahre. Diese haben sich häufig von den sie unterdrückenden Menschengruppen separiert. Sie erkennen stattdessen an, dass sie sie sowohl die Solidarität progressiver Schwarzer Männer sowie die von weißen Frauen, insbesondere Lesben, brauchen, um sich gegen die Strukturen zu wehren, die sie unterdrücken. Eine Kernerkenntnis des Textes ist folgende: „Wir kämpfen gemeinsam mit Schwarzen Männern gegen den Rassismus während wir auch gegen den Sexismus Schwarzer Männer kämpfen.“ Auch wenn wir nicht alle gegen den Rassismus kämpfen müssen, führen wir als Sozialist*innen ebenfalls einen Kampf, der uns alle vereint. Wir kämpfen als Arbeiter*innen, als Menschen ohne Besitz der Produktionsmittel, gegen kapitalistische Ausbeutung sowie Vereinzelung. Um diesen Kampf zu gewinnen, brauchen wir alle. Also können wir es uns nicht leisten, uns anhand von sozialen Markern spalten zu lassen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich Männer und männliche Personen, weiße Personen und nicht-queere Personen auf ihren erlernten, unterdrückenden Mustern ausruhen dürfen. Das Combahee River Collective erkennt in ihrem Text an, dass „eine sozialistische Revolution die nicht auch eine feministische und anti-rassistische Revolution ist“, keine Befreiung sein kann.
Diese feministische oder anti-rassistische Revolution ist allerdings historisch selten aus dem Wohlwollen derer entstanden, die sie nicht brauchten. Frauenrechte wurden von eben meist von weiblich besetzten, feministischen Gruppen errungen. Rechte für People of Colour (PoC) sind meist aus radikaler Selbstorganisierung entstanden. Auch heute sieht es, wie ich bereits beschrieben habe, selten anders aus. Identitätspolitik und der Fokus auf unsere eigenen, identitären Marker sind integraler Teil unserer Kämpfe. Aber diese konstituieren sich nicht nur aus Dingen wie Race, Geschlecht oder sexueller Orientierung, sondern auch Klasse.
Marx hat in seinen Werken etwas beschrieben was wir heute „Klassenbewusstsein“ nennen. Für ihn war ein wichtiger Teil der Revolution, dass die Arbeiter*innenklasse von einer Klasse „in sich“, also einer Klasse, die sich nur aus ihrem Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen (bzw. dem fehlenden Besitz dieser) definiert, zu einer Klasse „für sich“ wird. Also einer Klasse, die sich aktiv für ihre materiellen Interessen einsetzt. Einer Klasse, die den Fokus auf ihre eigene Unterdrückung lenkt und damit eine radikale Kraft entwickelt.
Aber auch wir als Menschen, die von sozialen Spaltungslinien, wie zum Beispiel Rassismus, Frauen-, Homo- oder Transfeindlichkeit, betroffen sind, müssen diese erkennen und aktiv für unsere Interessen eintreten. Diese Art von Identitätsbewusstsein können wir mit dem Marxschen Klassenbegriff nicht fassen, da dieser sich rein über die Produktionsverhältnisse definiert. Antonio Gramsci, ein italienischer Marxist aus dem frühen 20. Jahrhundert, hat den Klassenbegriff von Marx erweitert, damit wir auch die Spaltung entlang sozialer Linien, wie Geschlecht, Sexualität oder Race, in unsere materialistische Analyse aufnehmen können. Er nannte diese unterdrückten Klassen „subaltern“. In Anlehnung an diesen Klassenbegriff möchte ich das nicht-ökonomische Identitätsbewusstsein „subalternes Klassenbewusstsein“ nennen.
Für ein subalternes Klassenbewusstsein!
Wir als Subalterne, zu denen ich als trans Frau ebenfalls gehöre, dürfen es allerdings nicht bei Anerkennungspolitik belassen. Damit ist eine Politik gemeint, die sich nur um die Grundrechte von subalternen Personen kümmert. Außerdem dürfen wir uns nicht in sogenannter liberaler Identitätspolitik verlieren. Dabei beschreibt letzteres die Vereinnahmung von subalternen Kämpfen durch den Kapitalismus. Deutlich wird dies, wenn obere Managementebenen in Unternehmen „divers“ (also meist mit weißen Cis-Frauen, aber mit etwas „Glück“ auch mit PoC) besetzt werden, allerdings ohne das grundlegende, ausbeuterische System anzugreifen. Der Kapitalismus gibt sich fortschrittlich, ohne die materiellen Bedingungen der meisten „diversen“, also subalternen Menschen, wirklich zu verbessern. Ja, ich freue mich für jede marginalisierte Person, die ein gutes Leben hat. Aber als Sozialistin kann ich nicht aufhören zu kämpfen, bis wir das gute Leben für alle erlangt haben. Doch das erreichen wir nicht durch den Aufstieg einzelner in einem unethischen System, sondern nur durch eine fundamentale Neuordnung der Verhältnisse, in denen wir arbeiten und produzieren.
Allerdings ist der Weg zur Organisierung und für politische Kämpfe, die für diese Revolution notwendig sind, häufig, insbesondere für PoC und queere Menschen, versperrt. Nicht nur durch wenig inklusive, politische Räume, sondern auch durch fehlende Anerkennung im System und strukturelle Diskriminierung, die unsere materiellen Bedingungen formen. Als Arbeiter*innen ist die einzige Chance zu überleben, unsere Arbeitskraft zu verkaufen. Zu diesem Prozess gehört nicht nur die Arbeit selbst (was „Verkaufen der Arbeitskraft“ letztendlich bedeutet), sondern auch die Reproduktion der Arbeitskraft, also das Erholen und Kraft tanken. Wichtig dafür ist zum Beispiel eine menschenwürdige Wohnsituation oder der Zugang zum Gesundheitssystem. Beides ist für PoC und migrantische Personen zum Teil versperrt. Selbst wenn sie Zugang zum Gesundheitssystem haben, ist nicht immer gewährleistet, dass sie die optimale Behandlung bekommen, da Mediziner*innen in ihrer Ausbildung nicht für Rassismen sensibilisiert werden. Auch der Wohnungsmarkt bietet schlechte Bedingungen für Menschen, deren Name „nicht Deutsch“ klingt, weshalb sie wesentlich mehr Zeit und Aufwand in ihrer Reproduktion stecken müssen als weiße Personen. Das gleiche gilt für trans Personen. Auch ihnen wird durch einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt und hohen Hürden im Gesundheitssystem für ihre medizinische Transition, wenn sie diese benötigen, Zeit für ihre politische Organisation genommen.
Diese Zustände können wir als Sozialist*innen nicht hinnehmen. Wir müssen für die Möglichkeit der Organisierung dieser Menschen kämpfen. Da diese allerdings noch immer, wie beim Combahee River Collective, aus einer Selbstorganisierung und einem Fokus auf die eigene Unterdrückung, passieren muss, da es sonst niemand macht, handelt es sich hierbei um Identitätspolitik. Eine Politik, deren Schwerpunkt auf der materiellen Verbesserung unserer Lebenssituationen liegt. Diese materialistische Identitätspolitik müssen wir als Bewegung der liberalen Identitätspolitik linksliberaler Kräfte entgegenstellen. Nur dadurch können wir das Leben aller, und nicht nur einiger weniger, verbessern.
Die Revolution muss sozialistisch, feministisch, anti-rassistisch und queer sein
Subalterne Sozialist*innen, wie ich zum Beispiel, sind wie gemacht dafür. Wir sind nicht nur subaltern oder ökonomisch klassenbewusst. Wir sind beides, wir sind mehrfach klassenbewusst. Durch dieses mehrfache Klassenbewusstsein können wir zwischen Menschen vermitteln, die nur eines Klassenbewusstsein haben oder brauchen.
Materialistische Identitätspolitik kann und darf allerdings nur ein Zwischenschritt bleiben. Rassistische, sexistische oder queerfeindliche Strukturen und Verhaltensweisen führen immer zu einer Spaltung unserer Bewegung. Um die fundamentale Neuordnung der Produktionsprozesse zu erreichen, die wir brauchen, dürfen wir uns allerdings nicht spalten lassen, wie schon das Combahee River Collective erkannt hat. Wir dürfen keine Kämpfe aussparen. Unsere Revolution muss sozialistisch, feministisch, anti-rassistisch und queer sein.
Das heißt einerseits, dass wir uns als Subalterne nicht abspalten dürfen, auch wenn das manchmal als der einfachste Weg erscheint. Andererseits müssen sich die Nicht-Subalternen aktiv für uns einsetzen. Dieser Einsatz darf nicht nur aus Lippenbekenntnissen bestehen. Ganz im Sinne eines Wahlplakates der SPD aus dem Jahr 1932, muss es für uns Subalterne heißen: „Schaut nicht auf ihre Münder, schaut auf ihre Hände!“. Indem Nicht-Subalterne auch Politik für und mit Subalternen machen, nehmen sie die Notwendigkeit für Identitätspolitik, die Nichtbeachtung der materiellen Bedingungen der Subalternen. Nur durch gemeinsame Kämpfe – durch eine verbindende Klassenpolitik – können wir den Kapitalismus zu Fall bringen und in eine strahlende Zukunft schreiten.