Rollback gegen die Zivilklausel an der Goethe-Universität Frankfurt

Rollback gegen die Zivilklausel an der Goethe-Universität Frankfurt

Im Jahr 2013 hat die Goethe-Universität Frankfurt ihre Satzung um den Schutz ziviler Forschung, Lehre und Studien erweitert. Von dieser Absicht ist im Jahr 2022 nichts mehr zu spüren. Ein Protestbrief an alle Universitätsangehörigen, den Senat und das Präsidium der Goethe-Universität Frankfurt.

Die Zivilklausel

Seit im Jahr 1986 die Universität Bremen als erste Hochschule in der Bundesrepublik Deutschland eine Verpflichtung ihrer Forschungs- und Lehrarbeit für zivile und friedliche Zwecke in die Satzung aufnahm (und dies zuletzt im Jahr 2012 mit der Feststellung „Die Universität Bremen ist dem Frieden verpflichtet und verfolgt nur zivile Zwecke“ bestätigte [1]), haben insgesamt 75 deutsche Hochschulen eine ähnliche Klausel in ihren Satzungen verankert [2]. Außerdem wurde eine Festlegung ziviler Forschung und Lehre in den Bundesländern Thüringen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bremen in die Landeshochschulgesetze aufgenommen und ist in den Ländern Thüringen und Bremen immer noch wirksam [2].

An der Universität Frankfurt ist eine Zivilklausel seit 9 Jahren, seit Februar 2013, in Kraft. Der Öffentlichkeit verkündet wurde dies vor fast genau 9 Jahren, am 08.03.2013 [3]. Der Senat verankerte eine Festlegung auf zivilen Charakter von Forschung, Lehre und Studium in der Grundordnung der Universität, nachdem zuvor in einer Urabstimmung 76\% der Studierenden der Goethe-Universität eine solche Festlegung forderten [4]. Daher lautet die Präambel der Grundordnung der Goethe-Universität Frankfurt seit Februar 2013:

Die Goethe-Universität fördert die Entwicklung der Wissenschaft und Künste. Lehre, Forschung und Studium an der Goethe-Universität dienen zivilen und friedlichen Zwecken. Diese Leitbilder verfolgt die Universität im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung; sie fühlt sich dabei der Bürgerschaft verpflichtet, Rechenschaft über ihr Handeln abzugeben und ihr gleichzeitig etwas zurückzugeben. [5, S .2]

Mit dieser Forderung standen die Studierenden der Goethe-Universität nicht im luftleeren Raum. Bereits zwei Jahre zuvor, im Jahr 2011 gründete sich die bundesweite Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel in Reaktion auf eine um sich greifende Praxis militärisch motivierter und finanzierter Forschung (im Jahr 2011 an 40 deutschen Hochschulen). In der Initiative setzen sich Studierendenverbände, friedensorientierte Fachverbände unterschiedlicher Forschungsdisziplinen und Gewerkschaften gemeinsam für eine Befreiung ziviler Forschung und Lehre von militärischen Interessen ein [6].

Dieses breite Bündnis ist sich darüber einig, dass akademische Forschung ihrer gesellschaftlichen Aufgabe, Lösungen zu sozialen und ökologischen Problemen vorzuschlagen, nur nachkommen kann, wenn sie zivil und frei ist, also nicht auf die Interessen der Stabilisierung einer bestimmten – staatlichen oder geostrategischen – Herrschaftssituation ausgerichtet wird. Daher fordert die Initiative Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel:

Wir fordern eine breite Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch der Institution Hochschule. Wissenschaft, Forschung und Lehre müssen dem Frieden und der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet sein. Wir stehen damit in der Tradition einer humanistisch verstandenen Wissenschaft eines Albert Einstein, Linus Pauling und Joseph Rotblat. [6]

Dass sich die Goethe-Universität diesem gesellschaftlichen Anspruch beugt, haben Studierende im Jahr 2013 erstritten. Doch das Präsidium und einzelne Professor*innen der Universität versuchen immer wieder, diese wichtige Selbstverpflichtung auszuhebeln. Im aktuellen Wintersemester 2021/2022 war zunächst ein kleinerer und aktuell ein massiver Angriff auf die zivile Orientierung von Forschung, Lehre und Studium an der Universität Frankfurt zu verzeichnen.

Die sogenannte Afghanistankonferenz

Zu Beginn des Wintersemesters 2021/2022, am 01. November 2021, fand an der Goethe-Universität Frankfurt die Konferenz „Das Afghanistan-Desaster“ statt [7], ein durch die Universitätsprofessorin Dr. Susanne Schröter (deren universitäre Arbeit schon aus den Eklats um die rassistischen sogenannten Kopftuchkonferenzen als problematisch bekannt ist [8]) initiierter bürgerlicher Aufarbeitungsversuch des Fiaskos [9], das der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan im vorangegangenen Sommer darstellte. Zu dieser Konferenz waren zivile Politiker*innen der bürgerlichen Parteien CDU, FDP, SPD und B90/die Grünen eingeladen, Professor Christopher Daase von der HSFK (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) und die exilierte Bürgermeisterin von Maidan Shar. Darüber hinaus war aber auch Generalleutnant Markus Laubenthal, der stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr, eingeladen [7]. Dieser offensichtliche Verstoß gegen die Zivilklausel durch die Einladung von militärischem Personal als Referent*innen auf wissenschaftlichen Veranstaltungen ist in der Studierendenschaft auf Protest gestoßen [10].

Dies war ein sehr offener, aber vergleichsweise noch kleiner Angriff auf die zivile Ausrichtung von Forschung und Lehre an der Goethe-Universität Frankfurt. Der aktuell relevante Fall vom 07. März 2022 greift die Zivilklausel der Goethe-Universität deutlich grundsätzlicher und umfänglicher an.

Das Sanktionsregime der Goethe-Universität

Am Montag, dem 07.03.2022, versendete das Präsidium der Goethe-Universität eine interne E-Mail, in der ein umfassendes Sanktionsregime in eigenständiger Weiterführung des staatlichen Sanktionsregimes gegen Russland angekündigt wurde. Darin heißt es zwar, dass „[f]ür die Politik und Entscheidungen Putins […] niemand aufgrund der Herkunft verantwortlich gemacht oder angefeindet werden [darf]“ [11], die Universität möchte sich also schon vorab gegen ihre Befürchtung absichern, an der Universität könne, wie es zuletzt in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft passiert, durch Systemkampfrhethorik und Sanktionen ein plumper antirussischer Rassismus gefördert werden. Allerdings ordnet das Präsidium gleichzeitig den härtestmöglichen Schnitt, die umfassendsten Sanktionen gegen russische Studierende und Forschende an:

Jeglicher Finanzfluss nach Russland wird unmittelbar unterbunden, auch wenn dies zu einem vorübergehenden Pausieren von Projekten und Projektvorhaben führt. Auch Kooperations- und Mobilitätsprogramme mit russischen Universitäten und anderen Einrichtungen werden vorerst ausgesetzt. [11]

Dies trifft alle russischen Studierenden, die an der Goethe-Universität Frankfurt Auslandssemester absolvieren, genauso wie Studierende der Goethe-Universität, die für ein Semester in Russland studieren.

Was eine Einstellung aller Auslandsstipendien über Erasmus und ähnliche Austauschprogramme für die betroffenen Studierenden bedeutet und wie viele Studierende betroffen sind, ist nur schwer abzuschätzen. Die Unwissenheit des Präsidiums im Bezug auf die Folgen der Aussetzung der Forschungskooperationen (s. unten) lässt aber darauf schließen, dass das Präsidium sich auch hier vermutlich der konkreten Konsequenzen der eigenen Anordnung nicht vollumfänglich bewusst sein wird. Durch eine generelle Sanktionierung russischer Banken [12] ist allerdings eine nicht unrealistische Einschätzung, dass eine Aussetzung der Stipendien quasi einem Ausreisezwang gleichkommt, da russische Studierende in Deutschland gerade kaum andere Möglichkeiten haben, ihr Leben zu finanzieren. Damit errichtet das Universitäts-Präsidium ein kulturelles Sanktionsregime, das wahrscheinlich genau die rassistischen Ausschlüsse produziert, von denen man sich zu Beginn der E-Mail distanzieren wollte.

Es trifft auch alle Forschungsprojekte, in deren Rahmen russische Institute und Arbeitsgruppen der Goethe-Universität kooperieren – und damit sowohl die russische als auch die deutsche zivile Forschung.

Durch diese eigenmächtigen Sanktionen des Universitäts-Präsidiums werden zivile Forschungsprojekte in vielen Fachbereichen auf Eis gelegt, die einen vermutlich beträchtlichen Mittelumfang haben, den das Universitäts-Präsidium selbst nicht abschätzen kann, da eine Einschätzung der betroffenen Mittel von den Fachbereichen binnen Tagesfrist eingefordert wurde [11], und die eine schmerzliche Lücke im wissenschaftlichen Prozess hinterlassen. Die Einstellung dieser Projekte per Dekret ist ein direkter Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit der Forschenden. Außerdem werden Verbindungen in die international orientierte russische Zivilgesellschaft gekappt, deren Mitwirken bei einer zivilen und friedensorientierten Konfliktlösung von unersetzlicher Bedeutung ist.

Zivile Forschung und Lehre ist dem Frieden und der Völkerverständigung verpflichtet. Durch die umfassende Einstellung aller Kontakte zu russischen Universitäten und Instituten hat das Universitäts-Präsidium die zivile Friedensorientierung der Forschung und Lehre an der Goethe-Universität praktisch beendet und den Forschungs- und Lehrkontext der Universität geopolitisch ausgerichtet. Damit handelt das Präsidium bewusst und umfassend entgegen der Grundordnung der Universität als ziviler Institution.

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hatte Ende Februar ein generelles Aussetzen der Förderung deutsch-russischer Forschungskooperationen angekündigt, diese Ankündigung jedoch am 01. März explizit widerrufen, da dies eine ungerechtfertigte Maßnahme gegen Teile der russischen Zivilgeselschaft sei [13]. Die Goethe-Universität Frankfurt handelt also explizit und auf eigene Verantwortung restriktiver als die Richtlinie des DAAD. Das Präsidium ist demnach für alle Folgen und Implikationen dieser Entscheidung vollumfänglich selbst verantwortlich. Der Ausschluss und die Ächtung russischer ziviler Forscher*innen und Studierender unterwirft die Forschungs- und Studienaustauschpolitik der Universität einer auf den zivilen Bereich ausgeweiteten militärischen Logik.

Die aktuelle Anordnung des Präsidiums handelt allen Idealen einer zivilen, demokratischen, friedensorientierten Wissenschaft zuwider und wirft nach 9 Jahren in autoritärer Manier die Zivilklausel an der Goethe-Universität auf den Müllhaufen der Geschichte. Daher fordern wir vom Präsidium der Goethe-Universität Frankfurt:

  • Eine ausführliche und öffentliche Erklärung an die Studierenden, auf welche Art und Weise Studium und Lebensführung von sanktionierten Studierenden betroffen wären, um wie viele Studierende es sich dabei handelt, und wie die Universität die effektive Abschiebung von jungen Menschen in einen Staat rechtfertigen will, der sie zum Dienst in einem heißen Krieg pressen würde,
  • In Übereinstimmung mit der Linie des DAAD, die Aufhebung der Sanktionen gegen russische Studierende, Forschende und Forschungsinstitutionen, die über diese Linie hinaus als Teil der russischen Zivilgesellschaft als Verbündete im Streben nach Frieden und Selbstbestimmung der Völker gesehen werden müssen, nicht als Verlängerung der russischen Regierung,
  • Den Widerspruch gegen die militärische und geostrategische Vereinnahmung der öffentlichen Wissenschaftskommunikation, wie sie derzeit im Bezug auf die Politikwissenschaften im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geschieht, sowie das Verhindern von Veranstaltungen an der Universität mit Beteiligung von militärischem Personal,
  • Die Nutzung und den Ausbau der Kontakte zu russischen Forschenden und Forschungsinstitutionen, um zivile Konfliktlösungsstrategien für Frieden und Verständigung voranzutreiben. Dadurch soll darauf hingewirkt werden, dass der Krieg beendet wird, denn dieser wird zugunsten geostrategischer Interessen geführt und geht zulasten der Zivilbevölkerungen in der Ukraine und in Russland; und
  • Ein klares und öffentliches Bekenntnis zur zivilen Orientierung von Forschung, Lehre und Studium an der Goethe-Universität sowie eine demokratische Aufarbeitung der Entscheidungen, die zu der Anordnung vom 07. März geführt haben.

Denn für ein friedliches und selbstbestimmtes Zusammenleben der Völker braucht es die Mitwirkung ziviler und auf Frieden ausgerichteter öffentlicher Institutionen.

Gezeichnet:

Die Linke.SDS Frankfurt

Studis gegen rechte Hetze

DIDF-Jugend Frankfurt

Miranda

CAL – Colectivo Anticolonial Latinoamericano

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[1] Senatsbeschluss 8484 des Senats der Universität Bremen, 25.01.2012, https://www.uni-bremen.de/fileadmin/user_upload/sites/as/beschluesse/2012/8484.pdf, abgerufen am 08.03.2022

[2] Initiative Hochschulen fur den Frieden – Ja zur Zivilklausel, http://www.zivilklausel.de/index.php/bestehende-zivilklauseln, abgerufen am 08.03.2022

[3] Pressemitteilung der Goethe-Universität Frankfurt vom 08.03.2013, https://www.puk.uni-frankfurt.de/75024388/Zivilklausel_f\%C3\%BCr_die_Goethe_Universit\%C3\%A4t?, abgerufen am 08.03.2022

[4] Studenten der Uni Frankfurt wollen Zivilklausel, ZEIT, 01.02.2012, https://www.zeit.de/studium/hochschule/2012-02/zivilklausel-frankfurt?utm_referrer=https\%3A\%2F\2Fde.wikipedia.org\%2F, abgerufen am 08.03.2022

[5] Grundordnung der JohannWolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Stiftung des öffentlichen Rechts, Fassung vom 26.02.2013, https://www.uni-frankfurt.de/51480616/Generic_51480616.pdf, Abgerufen am 08.03.2022

[6] Gemeinsame Erklärung der Initiative „Hochschulen für den Frieden – Ja zur Zivilklausel“, 04.06.2011, http://www.zivilklausel.de/index.php/zivilklausel-dokumentation/19-gemeinsame-erklaerung-der-initiative-hochschulen-fuer-den-frieden-ja-zur-zivilklausel, abgerufen am 08.03.2022

[7] Pressemitteilung der Goethe-Universität vom 26.10.2021, https://aktuelles.uni-frankfurt.de/veranstaltungen/konferenz-was-wir-aus-dem-afghanistan-einsatz-lernen-koennen/, abgerufen am 08.03.2022

[8] https://www.jetzt.de/politik/schroeter-raus-debatte-um-kopftuch-konferenz-an-der-goethe-uni-frankfurt, abgerufen am 08.03.2022

[9] Verschlepptes Fiasko, junge Welt, 20.08.2021

[10] Studis gegen rechte Hetze, https://www.facebook.com/rassismusgoetheuniffm/photos/a.701379543586807/1688164098241675, abgerufen am 08.03.2022

[11] E-Mail des Präsidiums der Goethe-Universität am 07.03.2022

[12] Tagesschau, 02.03.2022, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/swift-ausschluss-russland-ukraine-krieg-101.html, abgerufen am 08.03.2022

[13] Julia Herzberg: Wissenschaft im Krieg, FAZ, 09.03.2022