13 Mai Warum Sozialist*innen die palästinensische Sache unterstützen (müssen)
Am 15. Mai gedenken Palästinenser*innen ihrer Vertreibung im Zuge der Entstehung des Staates Israel 1948. Als Sozialist*innen müssen wir sie an diesem und jedem anderen Tag unterstützen. Gerade in Deutschland ist das unabdingbar.
Kommenden Sonntag, den 15. Mai, gedenken Palästinenser*innen hierzulande und überall der Nakba – „Katastrophe“ auf arabisch – die massive Vertreibung und Landnahme, die sich in Palästina vor und während der Entstehung des israelischen Staates ereignete.
In Deutschland scheuen viele eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema Israel-Palästina. Doch als Sozialist*innen stehen wir in der Verantwortung, uns gerade dort, wo es schwierig ist, auf die Seite der Unterdrückten zu stellen. Marx formulierte einst den kategorischen Imperativ, nach dem es „alle Verhältnisse umzuwerfen“ gelte, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Wer ist heute erniedrigt, wenn nicht jene palästinensischen Familien in Jerusalem, die gezwungen werden, ihre eigene Häuser zu demolieren? Wer ist geknechtet, wenn nicht die palästinensischen Arbeiter*innen, die jeden Morgen Stunden lang am Checkpoint Qalandia stehen müssen, um einen langen Tag harter Arbeit für einen geringen Lohn leisten zu dürfen? Und wer ist verlassen, wenn nicht die palästinensischen Geflüchteten, die nach Kriegsende nicht zurück nach Hause kehren durften, und bis heute, bis in die dritte und vierte Generation staatenlos durch die Welt getrieben werden?
Die realen und aktuellen Machtverhältnisse vor Ort könnten nicht eindeutiger sein, finden in der öffentlichen Debatte in Deutschland aber kaum Erwähnung. Das muss sich dringend ändern. Im Folgenden möchte ich deshalb ein paar wichtige Gründe anreißen, warum die Palästinasolidarität gerade aus sozialistischer Sicht so wichtig ist.
Kolonialismus und die Doppelrolle der Siedlerbewegung
Der palästinensisch-israelische Jurist und Gelehrter Raef Zreik hat den doppelten Blick auf die jüdischen Israelis treffend artikuliert: „Die Europäer sehen den Rücken des jüdischen Flüchtlings, der um sein Leben flieht. Der Palästinenser sieht das Gesicht des Siedlerkolonisten, der sein Land übernimmt.“
Dies wird oft als Besonderheit dargestellt, aber gerade diese doppelte, widersprüchliche Rolle der Siedler*innen ist für ein geschichtliches Phänomen typisch: den Siedlerkolonialismus. Dazu zählen mit allen ihren Eigenheiten und Spezifitäten unter anderem die Vereinigten Staaten, Südafrika und Neuseeland. Auch in diesen Fällen war Vertreibung und Unterdrückung in Europa ein zentraler Grund dafür, dass so viele Menschen Siedler*innen geworden sind; die frühen britischen Siedler*innen in Nordamerika wurden beispielsweise auf Basis ihrer Konfession verfolgt. Nichtsdestotrotz folgten da und in all diesen Fällen unsägliche Grauen und Massentragödien für die indigene Bevölkerung.
Die internationale Legitimierung solcher Staaten, auch vom Staate Israel, beruht auf Fremdherrschaft und dem Recht, dass Großmächte für sich beanspruchen, die Welt zu regieren und aufzuteilen. So feiert und ehrt der Staat Israel bis heute noch die Balfour-Deklaration von 1917, in der die britische Kolonialmacht ihre Unterstützung für die „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ verkündete, als Legitimation für seine Entstehung.
Die politischen und ökonomischen Verhältnisse, die aus einer solchen Konstellation entstehen, stehen scharf im Gegensatz zur demokratischen, solidarischen Gesellschaftsordnung, die Sozialist*innen aufbauen wollen: Die Indigenen werden politisch entrechtet und unterdrückt, ökonomisch enteignet und ausgebeutet. So auch in Palästina. Einem Großteil der Palästinenser*innen, die noch in ihrem Land leben, werden politische Grundrechte aberkannt, während der Staat Israel die Vertreibung und die Landnahme immer weiterführt und legitimiert, und sich die wirtschaftliche Überausbeutung der Palästinenser*innen in verschiedensten Formen weiter entfaltet.
Besonders deutlich wird diese kolonial geprägte Überausbeutung in den Industriezonen der Siedlungen im Westjordanland, wie beispielsweise in Mishor Adumim östlich von Jerusalem. Dort können israelische Unternehmen preisgünstig auf gewaltsam enteignetem Land und mit dem Einsatz überbilliger palästinensischer Arbeitskräfte produzieren. Diese bekommen Löhne, die weit unter dem israelischen Mindestlohn liegen, und genießen keine sozialen Rechte. Zwar stehen ihnen diese rechtlich zu, in der Praxis wird das aber nicht gewährleistet. Arbeiter*innen, die es wagen, sich gegen diese Verhältnisse aufzulehnen, können mit einem Anruf des Chefs bei der Polizei ihre Einreisegenehmigung verlieren und damit ihren Arbeitsplatz. Nur wenige wagen es, auf diese Weise ihre Lebensgrundlage aufs Spiel zu setzen. Die Überausbeutung geht ungehindert weiter.
Als Sozialist*innen wissen wir gut, wie die prekären Arbeitsbedingungen von vielen hierzulande die Löhne und Rechte aller Lohnabhängigen bedrohen. Genauso verschärft die Überausbeutung der Palästinenser*innen die Ausbeutung aller Arbeiter*innen im Staat Israel direkt, und indirekt durch internationale Konkurrenz auch die der Arbeiterklasse überhaupt. Das dürfen Sozialist*innen nicht hinnehmen! Der Kolonialismus muss in jeglicher Form, in Palästina und überall, zerschlagen werden.
Internationale Zusammenhänge
Doch um international für eine gerechte Welt zu kämpfen, müssen wir uns konkret mit den internationalen Machtstrukturen auseinandersetzen, die das systematische Unrecht verfestigen. Schon lange hat sich der Kapitalismus derart entwickelt, dass er unerbittlich auf internationale Machtkämpfe, einschließlich des Horrors des Kriegs, hinausläuft: ein globales System des Imperialismus. Dies haben Sozialist*innen wie Rosa Luxemburg schon vor über 100 Jahren erkannt.
In diesem Zusammenhang spielt der Staat Israel die Rolle einer regionalen Macht unter der Schirmherrschaft der globalen US-amerikanischen Hegemonie. Zwar handelt die israelische Regierung relativ autonom von der amerikanischen, doch ist sie gleichzeitig von ihr abhängig – durch massive Rüstungshilfe und vor allem diplomatische Unterstützung und Vetos im UN-Sicherheitsrat. Offensichtlich befinden sich die beiden Staaten grundsätzlich im Einklang, was ihre zentralen Interessen angeht. Amerikanische Politiker*innen sprechen regelmäßig davon, dass die Übermacht Israels in der Region ein amerikanisches Interesse ist. Deutsche Politiker*innen wie die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel sprechen einer ähnlichen Einstellung das Wort, wenn sie betonen, dass die israelische Sicherheit deutsche Staatsräson sei.
Die imperialistische Weltordnung lässt solche regionalen Mächte zu, stützt sie sogar, solange sie die Interessen der Großmächte und ihrer führenden Kapitalfraktionen fördern. Jede Regierung oder Auflehnung wiederum, die solche Interessen wesentlich infrage stellt, dulden sie nicht.
Diese Machtspiele stehen jeder emanzipatorischen Bestrebung diametral entgegen: Für die israelische Regierung und ihre Verbündeten stellte beispielsweise die demokratische Revolution 2012 in Ägypten eine potenzielle Bedrohung dar, während das erzreaktionäre Saudi-Arabien, dass mit der amerikanischen Regierung eng zusammenarbeitet, als „gemäßigt“ gelten darf. Die israelische Regierung stellt sich entsprechend häufig auf die Seite der Unterdrücker und gegen das Volk, nicht nur in Westasien, sondern auch in Südafrika, Lateinamerika und Südostasien.
Die israelische herrschende Klasse, die die Palästinenser*innen unterdrückt, ist somit durch und durch mit den herrschenden Klassen des globalen Nordens verzahnt und mit Diktaturen weltweit vernetzt. Der Kampf gegen die einen ist der Kampf gegen die anderen. Kämpfe wie der palästinensische, Kämpfe also für nationale Befreiung und Selbstbestimmung, schwächen den Imperialismus und können revolutionäre Bewegungen von unten stärken, weit über das Land hinaus, in dem der Aufstand selbst stattfindet und unabhängig von der führenden Ideologie dieser Kämpfe. Es ist deswegen kein Zufall, dass sich so gut wie alle Kräfte in der Region und weltweit, die sich gegen Kapitalismus und Imperialismus stellen, für die palästinensische Sache einsetzen. Den Schulterschluss mit progressiven Kräften in der Region und der Welt zu suchen, heißt Palästinasolidarität zu zeigen und zu praktizieren.
Deutsche Verhältnisse
Trotz alledem weisen viele Deutsche alle Gründe für die Palästinasolidarität von der Hand. Frei nach dem Motto: „In anderen Ländern geht das vielleicht, hier in Deutschland müssen wir uns aber an die Seite Israels stellen.“ Diese Antwort mag einem viel politischen Gegenwind ersparen, doch sie lässt sich nicht mit einem linken Internationalismus vereinbaren – ja nicht einmal mit dem Kampf gegen Unterdrückung und Nationalismus in Deutschland selbst.
Denn die Formel, nach der der Staat Israel für das jüdische Volk überhaupt steht, und dessen Unterstützung seitens Deutschlands als Versöhnung für die Verbrechen der Nazis gilt, gehört zum hegemonialen Selbstverständnis der herrschenden Klasse in der BRD. Diese Gleichung geht ohnehin nicht auf: Die meisten Jüdinnen und Juden der Welt leben nicht im Staat Israel und wählen seine Regierung nicht; und allein der Gedanke, dass die Unterdrückung eines anderen Volks die unsäglichen Untaten des eigenen „wiedergutmachen“ könnte, ist eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus. Aber abgesehen davon müssen wir die politische Funktionsweise dieser miserablen Formel in der deutschen Gesellschaft richtig einordnen: Sie legitimiert nämlich die bestehende Herrschaft sowohl nach innen als nach außen.
Nach innen bildet sie die Grundlage eines neuen (Ersatz-)Nationalismus, der systematisch in die Unterdrückung rassifizierter migrantischer „Andere“ mündet: insbesondere antipalästinensischer, aber auch antimuslimischer und sogar antischwarzer Rassismus – wie am Fall Nemi El-Hassan, bei der politischen Säuberung der Deutschen Welle, und im Fall Achille Mbembe zu sehen war. Nicht einmal Jüdinnen und Juden, inklusive Israelis, sind davor sicher, im Namen der proisraelischen Linie öffentlich delegitimiert zu werden – wie etwa im Fall der School For Unlearning Zionism.
Anhand von dieser Formel wird die notwendige Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit und ihr Nachleben bis heute zugunsten weiterer Ausgrenzung und Marginalisierung verlagert: Anstatt endlich die eigenen Sicherheitsbehörden zu entnazifizieren, beschäftigt sich Deutschland lieber mit „importiertem Antisemitismus“ und bedroht vor dem Hintergrund insbesondere (post)migrantische Menschen mit einem Ausschluss aus dem öffentlichen Leben, oder sogar aus dem Leben in der Bundesrepublik überhaupt.
Nach außen dient dann diese Formel indes dazu, geopolitische Ambitionen zu legitimieren: Ein „geläutertes“ Deutschland kann wieder wirtschaftlich und militärisch „Verantwortung“ in der ganzen Welt übernehmen. Seine „Israelsolidarität“ gilt als Beweis dafür, dass es keinen Grund gibt, sich davor zu fürchten. Die nun angekündigte massive Aufrüstung hätte ohne diese Formel gewiss niemals auf solch positive internationale Reaktion stoßen können, wie ihr zur Zeit begegnet.
Die antipalästinensische Positionierung der herrschenden Klasse in Deutschland ist also ein wesentliches Stück im Gerüst ihrer Legitimation und ihrer geopolitischen Bestrebungen. Deswegen ist Palästinasolidarität nicht nur eine menschliche und sozialistische Verantwortung wie überall auf der Welt, sondern auch gerade für den konkreten Kampf in Deutschland unabdingbar. „Die palästinensische Sache“, so beschrieb es einst der palästinensische Revolutionär und Schriftsteller Ghassan Kanafani, „ist nicht nur eine Sache für die Palästinenser, sondern eine Sache für jeden Revolutionär, wo immer er sich befindet, als Sache der ausgebeuteten und unterdrückten Massen in unserer Zeit.„
Foto: Patrick Perkins (Unsplash)
Michael Sappir studiert Philosophie in Leipzig, leitet die critica-Redaktion, und ist neben Die Linke.SDS im Jüdisch-israelischen Dissens (JID) aktiv.