06 Jun Das „Don’t say gay“-Gesetz: Angriff auf die soziale Reproduktion
Ein neues Gesetz im US-Staat Florida soll queere Menschen in der Schule unsichtbar machen. Anstatt diese Maßnahme als eine weitere Ablenkung aus dem „Culture War“ abzutun, müssen Sozialist*innen sie ernstnehmen und zurückkämpfen – denn es geht um ganz konkrete soziale Reproduktion.
Der 29. März markiert eine wesentliche Niederlage im Kampf um die reproduktiven Rechte in den USA: An diesem Datum wurde die House Bill 1557 (Vgl. 1) des Senats des Bundesstaates Florida durch den Senator unterzeichnet. Dieses Gesetz, welches nach eigener Aussage die Rechte der Eltern in der Schulbildung ihrer Kinder zu sichern, soll unter anderem die Behandlung von sexueller und geschlechtlicher Identität im Unterricht (classroom instruction) verhindern. Im Gesetzestext steht, dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität bis zum Alter von ungefähr 8 Jahren nicht, und danach nur „altersentsprechend“ (age-appropriate) bzw. „entwicklungsentsprechend“ (developmentally appropriate) im Unterricht stattfinden darf.
Wie rechtsklar die Begriffe des Gesetzestextes sind, ist allerdings unklar. Diese Unklarheit ist laut Rechtsexpert*innen gewollt. Charlton Copeland, Professor an der School of Law der University of Miami, sagte gegenüber NBC News, dass diese Unschärfe nicht aus einer Ignoranz, Nachlässigkeit oder Faulheit heraus passiert. Vielmehr werde diese Vagheit genutzt, um „den Ort des politischen Kampfes zu verlagern“. (vgl. 2). Durch diese Vagheit könnte es zu einer Masse an Gerichtsfällen gegen einzelne Lehrer*innen kommen, allein wegen der Tatsache, dass zum aktuellen Zeitpunkt alles unter die oben genannten Begriffe fallen könnte. Diese Masse könnte laut Copeland einen „chilling effect“ (ebd.), also eine Abschreckwirkung auf die Lehrer*innen haben und somit weiterführend zu einer Selbstzensur führen.
Diese Entwicklung, die nicht nur in Florida, sondern auch in 15 anderen US-Bundesstaaten in verschiedenen Stadien zu beobachten ist (Vgl. 3), blieb von der US-Amerikanischen Linken eher unbeobachtet. Weder die Democratic Socialists of America (DSA) noch beispielsweise das Jacobin-Magazin haben dazu veröffentlicht. Linke Content-Ersteller*innen im Internet waren einige der wenigen, die darauf reagiert und die Ereignisse für ihre Konsument*innen eingeordnet haben (Vgl. 4).
Politische Kämpfe wie diese werden auch noch heute von der linken Bewegung häufig ignoriert. Identitätspolitik oder „Culture War“ wird es häufig genannt. Das mag für einige Debatten sicher stimmen, allerdings dürfen wir uns als Materialist*innen nicht auf diesem Urteil ausruhen. Wir sollten absolut alarmiert sein, wenn diese Debatten auf einmal in tatsächlich bestehende interpersonelle Diskriminierung umschlagen oder in Gesetze gegossen werden. Denn diese Verbote berühren, neben dem Fakt, dass sie ein sehr offensichtlicher Versuch sind, LGBT-Rechte zurückzudrängen, direkt die (soziale) Reproduktion von jungen queeren Menschen.
Bildung gehört zur Reproduktion, und somit zu den Produktionsverhältnissen
Karl Marx sah die Wiederherstellung, also die Reproduktion, der Arbeitskraft (Vgl. 5) als einen essenziellen Teil aller Produktionsweisen: Ob in einer kapitalistischen Fabrik, auf einer Sklavenplantage, oder in einer autonomen Kommune, müssen die Arbeiter*innen erzogen, ernährt, bekleidet und geheilt werden. (Vgl. 6)
Die soziale Reproduktionstheorie (SRT) entwickelt Marx‘ Überlegungen zu diesem Glied in der Produktionskette weiter. So hat Lise Vogel in den 1980er Jahren die Frage gestellt, welche Rolle Frauen (und weibliche Personen) im kapitalistischen Produktionsprozess spielen. Sie hat festgestellt, dass Frauen in der Regel etwas übernehmen, was heute Care- oder Sorgearbeit genannt wird. (Vgl. 7) Sie schreibt, dass die Übernahme nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch an den Orten, an denen die Arbeitskraft von vielen Menschen gleichzeitig (wieder-)hergestellt wird, stattfindet. Diese Orte sind beispielsweise Krankenhäuser und Arztpraxen, in denen die Gesundheit der Arbeiter*innen wiederhergestellt wird, aber beispielsweise auch Kindergärten und Schulen: also die Orte, welche die Republikaner*innen in den 16 US-Bundesstaaten mit den „Don‘t say gay“-Gesetzen beschneiden wollen.
Warum aber ist ausgerechnet die „Don’t Say Gay“-Bill für Marxist*innen wichtig? Sie tangiert ja im Grunde nur einen winzigen Bruchteil eines riesigen Lehrplanes. Außerdem stellt sich die Frage, warum etwas, was auf dem ersten Blick nicht wirklich die Arbeitskraft tangiert, sondern eher auf Ideen basiert, also nach Marx idealistisch ist, unsere politische Energie bedarf.
Einerseits ist es für uns sowieso wichtig angrenzende Kämpfe von Subalternen, also den marginalisierten Menschen, mit aufzunehmen und zu radikalisieren (Vgl. 8). Andererseits ist es auch in einem Analyserahmen der sozialen Reproduktinstheorie diese Gesetzesinitiative stark zu verurteilen.
Queere Reproduktion
Die britische Marxistin Jules Joanne Gleeson beschreibt in ihrem Aufsatz „How do Gender Transitions Happen?“ (Vgl. 9), wie Geschlechtertransitionen bei trans Menschen nicht nur aus einer individuellen, sozialen und einer medizinischen Transition bestehen, sondern auch durch einen Prozess, auf dem trans Personen von ihrem Umfeld begleitet werden, der diese beiden Formen der Transition umspannt und sie lenkt. Sie führt aus, dass der Ort, an dem dieser Prozess stattfindet, kein institutionalisierter ist, sondern in Freund*innenschaften oder Austauschgruppen mit anderen Personen, meist (aber nicht nur) anderen trans Personen vollzieht.
Dieser Prozess bedeutet einerseits den Austausch von Informationen, zum Beispiel zu queerfreundlichen Ärzt*innen, zu Erfahrungen mit der Hormonersatztherapie, zur Selbstmedikation, wie sich ein besseres „Passing“ gestaltet (also wie man besser als das gewünschte Geschlecht gelesen wird) und so weiter. Außerdem bieten diese Communities ein geschlechterbestätigendes Umfeld, auch wenn es das eigene soziale Umfeld nicht bieten kann. Dieses stärkende Umfeld ist für queere, insbesondere trans Personen unglaublich wichtig, da ihre mentale Gesundheit, besonders bei Jugendlichen, massiv von Akzeptanz abhängt. (Vgl. 10 u. 11).
Diese Communities übernehmen also eine wichtige Aufgabe, sich um die mentale Gesundheit ihrer trans Geschwister zu kümmern, und somit auch aktiv zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft beizutragen. Eine Aufgabe die, wie Silvia Federici sehr richtig fordert, so gut es geht vergesellschaftet werden muss. (Vgl. 12)
Queere soziale Reproduktionstheorie geht aber noch weiter. Während Gleeson auf die Implikationen des Communityprozesses nur mit Blick auf Organizingstrategien eingeht, versucht Noah Zazanis in seinem Essay „Social Reproduction and Social Cognition: Theorizing (Trans)gender Identity Development in Community Context“ (Vgl. 13) das ganze etwas zu konkretisieren. Er schreibt, dass „Rollenmodelle, gelebte Erfahrungen und Fälle von direkter Lehre“ (Models, enacted experiences and instances of direct tuition) strukturell weitergeführt werden und nicht aus einem luftleeren Raum entstehen.
Man wird also nicht als Heteroperson geboren, die mit Mitte vierzig Wandtatoos ästhetisch findet. Unser Diskurs setzt einige Marker als Norm an, und hetero zu sein ist einer dieser normativen Marker. Hetero sein wird uns als das einzig mögliche gezeigt. Egal ob in Disneyfilmen, wo es nur cis und hetero Prinz*essinen gibt, oder im Deutschunterricht, wo die gesamte Pflichtliteratur nur von hetero Personen handelt (Kultur und Medien als Orte der Reproduktion von Hegemonie und Identität hat Zazanis leider nicht bedacht).
Aber auch queere Identitäten können reproduziert werden. Das passiert häufig nicht in institutionalisierten Orten wie Schulen oder Filmstudios bzw. Kulturorten, sondern vor allem in queeren Freund*innengruppen oder in entsprechenden Internetforen. Gerade das Internet hat in den vergangenen Jahren hier eine riesige Rolle eingenommen. Während queere, insbesondere trans Orte, im Internet in den frühen Jahren des Web 2.0 noch relativ nischig waren, hat sich beispielsweise auf TikTok mittlerweile eine breite Kultur für jede beliebige queere Subidentität gebildet. Durch den leichten Zugang wird es einfacher Gleichgesinnte zu treffen.
Sichtbarmachung als Reproduktionsarbeit
Dies wiederum führt nicht nur zu einer Normalisierung von queerer Identität, sondern auch dazu, dass Personen erst einmal entdecken, dass andere sexuelle und geschlechtliche Orientierung überhaupt existieren.
Sehr viele Menschen leben noch immer im sogenannten Closet, sie hatten noch kein Coming Out. Das hat sehr viele Gründe, aber ein wichtiger ist, dass sehr viele queere Personen, insbesondere in ihrer Pubertät, das, was sie fühlen, nicht wirklich einordnen können. Das liegt vor allem an mangelnden Vorbildern, die ihnen bei einer solchen Einordnung helfen könnten. Diese Einordnung ist der erste Schritt für ein Coming-Out (zumindest vor sich selbst), welches eine starke Verbesserung in der mentalen (Vgl. 14) und körperlichen (Vgl. 15) Gesundheit mit sich bringt. Außerdem haben wir Indizien, dass Lehrer*innen, die offen ihre Queerness leben, für ein einerseits sicheres Umfeld für queere Schüler*innen und andererseits bei heterosexuellen Schüler*innen für mehr Akzeptanz sorgen. (Vgl. 16)
Die Sichtbarkeit von Queerness ist also ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Reproduktion, nämlich von queeren Arbeiter*innen. Solche Sichtbarkeit, sowie Repräsentation in der Öffentlichkeit und in den Medien, dürfen selbstverständlich kein Selbstzweck sein, wie sie so oft im liberalen Mainstream-Diskurs dargestellt werden. Als Sozialist*innen müssen wir sie aber schützen und fördern, um die soziale Reproduktion unserer (zukünftigen) Genoss*innen zu unterstützen und um unsere Bewegung breiter und diverser zu machen. Dazu benötigen wir eine breitere Akzeptanz von Subalternen auch innerhalb der Arbeiter*innenschaft.
Queere Reproduktion vergesellschaften
Denn Repräsentation beruht mehr oder weniger auf dem Zufall des Umfeldes oder dem Wohlwollen beziehungsweise Wirtschaftsinteressen von Medienkonzernen und ist deshalb für einen systemischen Wandel eher unbrauchbar. Eine Alternative zu einer solchen politischen Strategie könnte der Weg über die formale Bildung sein.
Durch die Einordnung und Normalisierung von queeren Beziehungen, Begehren und Identitäten in Lehrplänen können wir ganzen Generationen das Coming-Out erleichtern und eine Akzeptanz in der Arbeiter*innenklasse fördern. Außerdem kann eine Stärkung des Bildungs- und Sozialsektors, sowie eine Förderung von Beratungsangeboten, die für queere Menschen essenzielle Sorgearbeit leisten, die bis jetzt nur im privaten Umfeld passiert ist, vergesellschaften.
Diese Vergemeinschaftung wird nach und nach durch die Modernisierung von Lehrplänen vorangetrieben. Nun wird sie aber, zumindest in Florida und bald in den 15 anderen US-Staaten, verhindert. Der aufkeimende Faschismus in den USA zielt als erstes auf die reproduktiven Rechte von Frauen und queeren Personen. Wir als Sozialist*innen, als Antifaschist*innen, dürfen solche Angriffe auf keinen Fall ignorieren oder verharmlosen. Wir müssen in die Offensive gehen und den Subalternen die Rechte geben, die sie brauchen, um ein gutes Leben zu leben!
Mara Luise ist Autorin und Referentin. Sie schreibt und spricht vor allem über verbindende Klassenpolitik und Soziale Reproduktionstheorie. Ihre Spezialthemen liegen vor allem in Feminismus, Queer- und Medienpolitik. Sie kann gern zu diesen Themen als Referentin und Speakerin eingeladen werden. Sie ist unter der Mailadresse mara.guenzel@posteo.de u.a. für Anfragen erreichbar.
1: Florida State Bill 1557. (2022) https://www.flsenate.gov/Session/Bill/2022/1557/BillText/er/PDF
2: Lavietes, M. (2022, 16. März). What Florida’s „Don’t Say Gay“ bill actually says. NBC News. Abgerufen am 18. Mai 2022, von https://www.nbcnews.com/nbc-out/out-politics-and-policy/floridas-dont-say-gay-bill-actually-says-rcna19929
3: Ring, T. (2022, 29. März). 16 States Pushing „Don’t Say Gay“ Bills and Censorship Laws Right Now. Advocate. Abgerufen am 18. Mai 2022, von https://www.advocate.com/law/2022/3/29/16-states-pushing-dont-say-gay-bills-and-censorship-laws-right-now
4: Vaush: https://www.youtube.com/watch?v=vLfMaavZ6_0
Xanderhal: https://www.youtube.com/watch?v=FLunQeTBcNk
5: K. Marx, Kapital I, MEW 23, 593
6: K. Marx. Kapital I, MEW 23, S. 597
7: Vogel, L., Koch, R., Liess, J., & Stange, J. Marxismus und Frauenunterdrückung: Auf dem Weg zu einer umfassenden Theorie(1. Auflage.). Münster: Unrast.
8: Candeias, M.: Eine Frage der Klasse. Neue Klassenpolitik als verbindender Antagonismus (S. 459 – 469) in: M. Candeias (2021). KlassenTheorie: Vom Making und Remaking(1. Auflage.). Hamburg: Argument.
9: Gleeson, J. J. (2021). How do Gender Transitions Happen? In J. J. Gleeson & E. O’Rourke (Hrsg.), Transgender Marxism (1. Aufl., S. 70–84). Pluto Press.
10: San Diego clinic finds high need for treatment of transgender youth. (2015, 7. März). EurekAlert! Abgerufen am 18. Mai 2022, von https://www.eurekalert.org/news-releases/913334
11: Durhamn, L., McLaughlin, K. & Olson, K. (2016, 26. November). Mental Health and Self-Worth in Socially Transitioned Transgender Youth. Journal of the Amercian Academy of Child & Adolescent Psychiatry. Abgerufen am 4. Juni 2022, von https://www.jaacap.org/article/S0890-8567%2816%2931941-4/fulltext
12: Federici, S. (2020). Die Reproduktion der Arbeitskraft im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution. In S. Federici, M. Henninger (Übers.), Aufstand aus der Küche (3. Aufl., S. 21–86). edition assemblage.
13: Zazanis, N. (2021). Social Reproduction and Social Cognition: Theorizing (Trans)gender IdentityDevelopment in Community Context. In J. J. Gleeson & E. O’Rourke (Hrsg.), Transgender Marxism (1. Aufl., S. 33–46). Amsterdam University Press.
14: Meyer I. H. (2003). Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: conceptual issues and research evidence. Psychological bulletin, 129(5), 674–697. https://doi.org/10.1037/0033-2909.129.5.674
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2072932/
15: Juster, Robert-Paul MSc; Smith, Nathan Grant PhD; Ouellet, Émilie BSc; Sindi, Shireen MSc; Lupien, Sonia J. PhD Sexual Orientation and Disclosure in Relation to Psychiatric Symptoms, Diurnal Cortisol, and Allostatic Load, Psychosomatic Medicine: February/March 2013 – Volume 75 – Issue 2 – p 103-116 doi: 10.1097/PSY.0b013e3182826881 https://journals.lww.com/psychosomaticmedicine/Abstract/2013/02000/Sexual_Orientation_and_Disclosure_in_Relation_to.3.aspx
16: Gegenfurtner, A. & Gebhardt, M. (2017, 16. Oktober). Sexuality education including lesbian, gay, bisexual, and transgender (LGBT) issues in schools. Elsevier. Abgerufen am 4. Juni 2022, von https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1747938X17300386?via%3Dihub