Sieg der Amazon Labor Union – Entstehung einer neuen Organizing-Strategie?

Sieg der Amazon Labor Union – Entstehung einer neuen Organizing-Strategie?

Was Organizer*innen in Deutschland aus dem Sieg der Amazon Labor Union in den USA lernen können, schreibt John.

Am 01. April 2022 gelang es Arbeiter*innen, in dem einzigen Amazon-Warenlager in New York City die erste Abstimmung über eine Gewerkschaftsgründung zu gewinnen. Die Abstimmung verlief mit 2.654 zu 2.131 Stimmen keineswegs knapp. In starkem Kontrast dazu fiel in Bessemer Alabama, einem anderen Amazon-Standort, dieselbe Abstimmung aus. Hier stimmten die Arbeiter*innen ein zweites Mal gegen eine Gewerkschaftsgründung.

Dass die Arbeiter*innen in Staten Island New York von der neu gegründeten Amazon Arbeiter*innen Gewerkschaft (ALU) vertreten werden, ist ein bedeutender Sieg für die Arbeiter*innenbewegung in den USA. Initiiert wurde die Kampagne durch Chris Smalls sowie seinem Freund und Arbeitskollegen Derek Palmer. Smalls selbst war Amazon Arbeiter am Standort in Staten Island und wurde zu Beginn der Pandemie aufgrund von Kritik an den geringen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Angestellten des Unternehmens entlassen.

Wie haben diese zwei Organizer es geschafft das Momentum aufzubauen und wie war dieser bedeutende Erfolg ohne die finanziellen Ressourcen und Möglichkeiten einer klassischen Gewerkschaft möglich? Welche Lehren lassen sich daraus für Organizer*innen in Deutschland ziehen?

Gewerkschaftsarbeit von innen statt von außen

Nach seiner Entlassung von Amazon Anfang 2020 entschieden sich Smalls und Palmer dazu, den Versuch zu starten eine Gewerkschaft im Amazon Warenlager Staten Island New York zu gründen. In einem Jacobin Talk erklärt er, wie die Gruppe an Organizer*innen, die sich durch die Arbeit der beiden nach und nach bildete, in einem mühevollen Prozess mit so vielen der 8.000 Arbeiter*innen des Warenlagers wie möglich sprachen, um sie davon zu überzeugen, für die Gewerkschaft zu stimmen.

Der erste Schritt, so Smalls, wäre für ihn immer den Arbeiter*innen zu erklären, was Gewerkschaften tun können, um die finanzielle und Arbeitssituation der Angestellten zu verbessern. Denn nur sehr wenige der Arbeiter*innen hätten eine Vorstellung davon, was Gewerkschaften leisten und wie sie ihnen tatsächlich helfen können. Darüber hinaus seien Vorstellungen über Gewerkschaften von medialer und Konzern-interner Anti-Gewerkschaftspropaganda geprägt.

Gewerkschaftliche Organisierung trotz Union Busting

Die Amazon Labor Union (ALU) als neu gegründete Gewerkschaft finanzierte sich ausschließlich über GoFundMe-Kampagnen, über die sie mehr als $120,000 erhielten. Die Abstimmungen gewannen die ALU-Mitglieder, trotz ihrer finanziellen Unterlegenheit gegenüber Amazon. Der Konzern gibt jährlich allein in Amerika mehrere Millionen Dollar für Union Busting aus.

Nötig für diesen Erfolg war zuerst das Vertrauen der anderen Arbeiter*innen zu gewinnen. Die ALU bot ihnen etwas, das Amazon nicht bieten konnte: einen Gemeinschaftssinn unter den Arbeiter*innen. Sie bereiteten Essen vor und warteten damit zum Schichtende vor dem Warenlager auf die Arbeiter*innen. Sie spielten Musik und halfen den Arbeiter*innen bei ihren Problemen, um eine Atmosphäre zu erzeugen, in der sich die Arbeiter*innen wohlfühlten. Darüber hinaus nutzen sie jede Gelegenheit, um mit den Arbeiter*innen zu sprechen, und hielten sich in der Vorbereitung auf die Wahl täglich an dem Warenlager auf.

Sie versuchten nicht, den Arbeiter*innen zu sagen, wie sie zu stimmen hätten, sondern begannen damit, die Arbeiter*innen nach ihren Ansichten auf die Gewerkschaftswahl zu fragen und mit ihnen über die Vor- und Nachteile von Gewerkschaften zu diskutieren. Damit unterschied sich ihre Vorgehensweise, von der des Amazon Management, das eine Welle an aggressiven Anti-Gewerkschafts-Kampagnen startete. Teil dieser Kampagnen waren mehrere verpflichtenden Meetings am Tag, in denen Arbeiter*innen zu einer bestimmten Wahlentscheidung gedrängt werden sollten. Des Weiteren verbreiteten sie Unwahrheiten über die Gewerkschaft sowie ihre Mitglieder und machten dabei in starkem Maße von Rassismus gegen die Organizer*innen Gebrauch, bei denen es sich zu großen Teilen um POCs handelt. Zentral für das Amazon-Management war auch die ALU als außenstehende Akteure darzustellen, die in den Arbeitsplatz eindringen würden. Die Stärke der Gewerkschaft lag jedoch ganz im Gegenteil darin, dass sie sich aus Teilen der Belegschaft zusammensetzten.

Als eine der größten Hürden für die Organizer*innen stellte sich Amazons Beschäftigungsverhältnis heraus. Die Arbeitsbedingungen in den Amazon-Warenlagern sind so schlecht, dass Angestellte, die länger als ein Jahr in einem Warenhaus arbeiten, dort bereits als Langzeit-Angestellte gelten. Das Geschäftsmodell baut darauf auf, dass Arbeiter*innen schon nach kurzer Zeit kündigen oder schnell entlassen werden und genügend Menschen in schlechten finanziellen Situationen ihre Stelle einnehmen können. Aus diesem Grund war das Engagement der Arbeiter*innen für die Verbesserung der Bedingungen nicht besonders hoch. Darum steckten die Organizer*innen besondere Arbeit darein, diejenigen Arbeiter*innen für die Gewerkschaft zu gewinnen, die über einen längeren Zeitraum in dem Warenlager arbeiten, ohne aber dabei die neuen Angestellten zu vernachlässigen.

Der Erfolg der Kampagne

There is strength in numbers” betont die Gewerkschaftssekretärin der ALU, Michelle Valentin Nieves, immer wieder. Die Organizer*innen wussten, dass sie sich nicht mit der Unterstützung durch einen gewissen Teil der Arbeiter*innen zufrieden zu geben konnten, sondern auch in einem langwierigen Prozess die Unterstützung möglichst vieler, neu eingestellter Arbeiter*innen erkämpfen mussten. Nur durch die pure Menge an Angestellten, die die Gewerkschaft unterstützen, konnten sie das Momentum aufbauen, das zum Sieg nötig war.

Darüber hinaus bietet Amazon auf den ersten Blick bessere Bezahlung und bessere Arbeitsumstände als andere Unternehmen. Dies war laut Smalls jedoch kein Problem, denn die Arbeiter*innen begannen mit den Gewerkschaftsmitgliedern zu sprechen, sobald sie feststellten, dass die Situation in Wirklichkeit nicht viel besser sind und “das Management nicht auf ihrer Seite ist”.

Zudem wurde der Versuch die Wahl zu gewinnen von einer Social-Media-Kampagne insbesondere über TikTok begleitet, in der das Vorgehen der Mitglieder dokumentiert wurde. So gibt es Videos, wie die Organizer*innen im Zelt vor dem Warenlager Squid Game schauen oder mit der Polizei diskutieren. Manche dieser Videos erreichten mehrere hunderttausend Menschen und trugen somit ihren Teil zur Verbreitung der Kampagne in der Öffentlichkeit und der Unterstützung über GoFundMe bei.

Eine neue Form der Gewerkschaftsarbeit

Welcher Erkenntnisse lassen sich also aus der erfolgreichen Gewerkschaftsbildung in Staten Island ziehen? Klassische Gewerkschaftsarbeit ist bei Unternehmen wie Amazon sehr schwierig. Der entscheidende Unterschied zwischen den etablierten Gewerkschaften und der ALU in ihrer Vorgehensweise war dabei, dass sie nicht von außen kamen um die Arbeiter*innen zu vertreten, sondern dass sie ausnahmslos Teil der Belegschaft waren. So konnten sie das Vertrauen der Arbeiter*innen leichter gewinnen und waren auch vertrauter mit ihren Problemen und Ansichten. Darüber hinaus nutzen sie Social Media effektiv, um Unterstützung aus der Öffentlichkeit zu gewinnen.

Organizing bei Amazon in Deutschland:
seit Jahren andauernder zäher Kampf

Auch in Deutschland ist Amazon ansässig. Der Konzern ist zwar derselbe und operiert so wie der Mutterkonzern in den USA. Auch die Probleme, vor denen Organizer*innen hier stehen, sind ähnliche. Trotzdem ist die Situation der gewerkschaftlichen Organisierung in Deutschland eine ganz andere.

Die Gewerkschaft ver.di, also eine klassische Gewerkschaft, ist seit Jahren an der Organisierung der Amazon-Arbeiter*innen beteiligt. Im Jahr 2013 organisierten sie den weltweit ersten Streik an einem Amazon-Standort und diese Streiks werden bis heute fortgesetzt: der letzte fand am 03. Mai 2022 in Leipzig statt.

ver.di zielt mit den Streiks darauf ab, Amazon zum Abschluss von Tarifverträgen zu zwingen. Obwohl das Ziel zum Abschluss eines Tarifvertrages mit Amazon bisher nicht erreicht wurde, haben die Organizer*innen und gewerkschaftlich aktiven Arbeiter*innen die Bewegung bereits 9 Jahre aufrechterhalten und es wurden einige Verbesserungen der Arbeitssituation sowie Gehaltserhöhungen erkämpft.

In den deutschen Amazon-Standorten ist der Organisationsgrad jedoch gering. Die Gründe dafür sind von Standort zu Standort unterschiedlich. An älteren Standorten, wie dem Warenlager in Leipzig, ist der Durchlauf der Angestellten sehr gering und die Arbeiter*innen zum Teil seit 10 Jahren angestellt. Hier stoßen die Organizer*innen auf Schwierigkeiten, weil nur ein Teil der Belegschaft an gewerkschaftlicher Organisierung interessiert ist und sich die übrigen auch nach Jahren aus unterschiedlichen Gründen nicht umstimmen lassen. Deshalb ist auch der Anteil der Arbeiter*innen, die an Streiks teilnehmen, nur begrenzt.

Vielen Arbeiter*innen in Leipzig geht es nicht primär um die Gehaltserhöhungen, die mit dem Abschluss eines Tarifvertrags erzielt werden könnten. Die zentralen Anliegen der Arbeiter*innen sind Gesundheits- und Arbeitsschutzthemen, weshalb der Fokus der gewerkschaftlichen Kampagne in Leipzig auch stärker auf diese Themen gelegt wurde. An den neueren Standorten, viele davon Logistikzentren, an denen der Durchlauf der Belegschaft höher ist, schrecken die Arbeiter*innen vor gewerkschaftlicher Organisierung zurück, weil sie um die Verlängerung ihrer Verträge fürchten. An diesen ist auch die Zahl der migrantischen Arbeiter*innen höher. Hier könnten die Strategien der Amazon Labor Union eine Chance darstellen.

Damit die von ver.di ausgerufenen Streiks tatsächlich ökonomische Wirkung zeigen und nicht nur die öffentliche Meinung beeinflussen, ist es wichtig, dass sie überregional koordiniert sind. Andernfalls ist es für Amazon möglich auf einen der anderen Standorte in Deutschland oder Polen und Frankreich auszuweichen, um dem Streik zu entgehen. Aus diesem Grund gibt es nun die Vernetzung durch die neue Arbeiter*innenkoalition Amazon Workers International.

Ob Organizer*innen in Deutschland beziehungsweise Europa von der Strategie der ALU Gebrauch machen können und eine ähnliche Strategie hier anwendbar ist, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass der Kampf um die Organisierung der Amazon Arbeiter*innen ein zentraler Bestandteil von historischer Bedeutung für die Arbeiter*innenbewegung bleiben wird, ob in Staten Island, New York oder Leipzig.

John M. studiert Sinologie und Politikwissenschaften in Leipzig und denkt, dass ihr eure Arbeitsplätze gewerkschaftlich organisieren solltet.