Kampf gegen die chinesische Diktatur

Kampf gegen die chinesische Diktatur

Nachdem ein einzelner Demonstrant regierungskritische Banner in Beijing aufgehängt hat, haben sich viele seinen Forderungen angeschlossen. John M. war in Berlin, um sich eine Kundgebung der Bewegung anzusehen.

Eine Mischung aus etwa hundert Schwarzgekleideten und Menschen in Corona-Schutzanzügen und hat sich am 12. November an der Weltzeituhr in Berlin versammelt. Viele von ihnen trugen Masken und Sonnenbrillen, sodass ihre Identität geschützt wird. Dass sie unerkannt bleiben, ist äußerst wichtig, denn bei den Teilnehmer*innen dieser Kundgebung handelt es sich um chinesische Staatsbürger*innen. Auf den Plakaten der Demonstrant*innen steht auf Deutsch und Chinesisch »stoppt Xi Jinping«, »Wahlen statt Diktatur« und »Solidarität mit den Uiguren« sowie andere Parolen, die sich gegen die chinesische Politik richten.

Wie außergewöhnlich dies ist, lässt sich an einer Aussage durch eine Vertreterin der Tibet Initiative erkennen, die auf der Kundgebung eine Rede hielt. Obgleich sie ihr ganzes Leben auf Demonstrationen gegen die chinesische Regierung gestanden habe, habe sie nie zuvor mit so vielen chinesischen Staatsbürger*innen zusammen demonstriert. Die Kundgebung ist Teil der sogenannten Plakatbewegung, die einen Monat zuvor ihren Anfang nahm. Wie kam diese außergewöhnliche Bewegung zu Stande?

Der Vorfall in Beijing

Am 13. Oktober 2022 wurden zwei Banner von einem bis dahin unbekannten Demonstranten auf der Sitong-Brücke an einer vielbefahrenen Kreuzung mitten in Beijing angebracht. Auf dem ersten Banner standen sechs Forderungen: »Wir wollen Essen, keine (verpflichtenden) PCR-Tests. Wir wollen Freiheit, keine Lockdowns. Wir wollen Respekt, keine Lügen. Wir wollen Reformen, keine Kulturrevolution. Wir wollen Wahlen, keine Diktatur. Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven.« Darüber hinaus wurde auf dem zweiten Banner dazu aufgefordert, den Unterricht und die Arbeit zu bestreiken und den »Diktator Xi Jinping« zu stürzen.

Obwohl es sich nur um eine einzelne Person handelte, die diese Protestaktion durchgeführt hat, sind Zeitpunkt und Ort der Durchführung aufsehenerregend. Am 16. Oktober, also drei Tage später und nur etwas mehr als 10 Kilometer von der Sitong Brücke entfernt, begann der 20. nationale Parteikongress der Kommunistischen Partei Chinas.

Schon nach kurzer Zeit kamen Sicherheitskräfte und die Banner wurden entfernt. Auf den sozialen Medien breiteten sich die Bilder des Ereignisses trotz der Zensur im chinesischen Internet rasant aus. Kurze Zeit später wurde bekannt, dass es sich bei dem Demonstranten um einen Forscher der Elektrophysik namens Peng Lifa handelte, der eine ganze Strategie für die Mobilisierung der chinesischen Zivilgesellschaft zur Umsetzung der Forderungen aufgestellt und unter einem Pseudonym auf Researchgate hochgeladen hatte. Das Dokument enthält ebenfalls unterschiedliche Vorschläge für Reformen zur Demokratisierung politischer Institutionen Chinas.

Unzufriedenheit mit der Kommunistischen Partei

Die Protestaktion von Peng Lifa spiegelt eine weitverbreitete Unzufriedenheit unter Chines*innen mit der »dynamischen Zero-Covid Strategie« der Kommunistischen Partei wider. Nach zwei Jahren drakonischer Lockdowns, in denen die Durchführung der Maßnahmen in vielen Fällen über die Aufrechterhaltung der Zugänge zu medizinischer Infrastruktur und sogar der Grundversorgung mit Lebensmitteln gestellt wurde, erhoffen sich vielen Chines*innen ein Ende der Maßnahmen.

Zudem muss die Aktion im Kontext des allgegenwärtigen chinesischen Überwachungsapparates gesehen werden. Weil die chinesische Zivilgesellschaft aufgrund extremer staatlicher Repressionen praktisch nicht existent ist und es keinen Raum für Versammlung und das Ausarbeiten von Strategien gibt, werden solche Aktionen häufig von einzelnen Dissident*innen durchgeführt.

Darüber hinaus gibt es in autoritären Gesellschaften eine starke Aversion gegen regierungskritische Proteste, die sich Menschen aneignen, um sich selbst zu schützen. Umso überraschender war die Reaktion auf die Aktion in den darauffolgenden Wochen.

Bereits einen Tag später hatten chinesische Studierende Plakate in Universitäten aufgehängt, auf denen Pengs Forderungen abgedruckt waren. Obgleich diese Plakatierungen lediglich an Universitäten außerhalb der Volksrepublik stattfanden, kam es auch in China zur weiteren Verbreitung der Forderungen. Aktivist*innen schrieben die Forderungen an die Wände der letzten nicht überwachten Orte (Toiletten) und versendeten sie per Air-Drop an öffentlichen Orten.

Außergewöhnliches Engagement

Diese Reaktion stellt eine große Neuheit dar, weil viele der chinesischen Studierenden sich vorher noch nie an politischen Aktionen beteiligt hatten. Jetzt verbreiten sie regierungskritische Plakate und Flyer an ihren Universitäten und trauen sich sogar an Kundgebungen teilzunehmen. Aufgrund der Plakate, die von Studierenden aufgehängt wurden, hat die Bewegung den Namen #ThePosterMovement angenommen.

An Kundgebungen teilzunehmen ist für chinesische Staatsbürger*innen oder Menschen mit Verwandten in der VR China mit einem großen Risiko verbunden. Im Falle, dass die Identität der Teilnehmer*innen bekannt wird, sind nicht nur sie, sondern auch ihre Verwandten in der Volksrepublik gefährdet. Zudem gab es gerade in den letzten Wochen Berichte darüber, dass der chinesische Staat ein Netzwerk an geheimen Polizeistationen im Ausland betreibt, so unter anderem in den Niederlanden.

Nichtsdestotrotz wurden auch an deutschen Universitäten immer wieder Plakate aufgehängt, die auf die Forderungen Peng Lifas Bezug nehmen und diese weiterentwickeln. Außerdem versammelten sich auch chinesische Staatsbürger*innen in Berlin zu einer Kundgebung, an der sich ungefähr 100 Personen beteiligten.

Organizing als Ausweg

Auch wenn Pengs Strategie bezüglich der Reformen der chinesischen Institutionen einige Schwächen hat, so haben seine Gedanken zur Mobilisierung der chinesischen Zivilbevölkerung tatsächlich das Potential (wenn sie umgesetzt würden), dass damit Freiräume für die Zivilgesellschaft erkämpft werden können.

Seine Strategie baut auf Streiks durch Arbeiter*innen und Bestreikung des Unterrichts auf. Damit fokussiert er sich auf Gruppen, bei denen in China aufgrund der wirtschaftlichen Umstände wachsende Unzufriedenheit herrscht. Nicht nur gibt es eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, sondern darüber hinaus herrscht im Bildungssystem eine extreme Konkurrenz, die von immer mehr Chines*innen als nicht zu rechtfertigen betrachtet wird. Zudem gab es in der Volksrepublik eine große Ausweitung der gig economy. Währenddessen nahmen Aufstiegschance in der chinesischen Wirtschaft mit der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren immer weiter ab.

Eine Koalition aus Arbeiter*innen und Studierenden könnte eine entscheidende Rolle im Kampf für einen demokratischen Sozialismus in China spielen. Allerdings muss die Organizing Stärke der chinesischen Arbeiter*innen gesteigert werden, damit es tatsächlich zu Streiks kommen kann.

Die wichtige Rolle der Diaspora

Eine zentrale Rolle spielen laut Ruo Yan, einem Sozialisten, der Pengs Strategie analysiert hat, die chinesische Diaspora und chinesische Staatsbürger*innen die im Ausland leben. Denn anders als in der Volksrepublik ist es im Ausland möglich, Strategien für die Organisierung der chinesischen Arbeiter*innen auszuarbeiten, Verbindungen unter Aktivist*innen herzustellen und eine Infrastruktur für das Organizing aufgebaut werden kann.

Was können wir tun? Wir müssen die chinesischen Aktivist*innen bei ihren Anliegen unterstützen, indem wir die Anliegen ihrer Bewegung durch die sozialen Medien verbreiten. Dafür kann man Instagram-Seiten wie @Northern_Square und @citizensdailycn folgen. Wenn möglich, sollte auch an den Kundgebungen teilgenommen werden, um zu zeigen, dass Aktivist*innen aus China, Hongkong, Tibet und Xinjiang nicht allein stehen im Kampf gegen den autoritären Kapitalismus in der Volksrepublik.

John M. studiert Sinologie und Politikwissenschaften in Leipzig und betreibt den Youtube Kanal Maytern.