Aus Versehen sozialistisch? Medizinstudierende kämpfen um das Praktische Jahr

Aus Versehen sozialistisch? Medizinstudierende kämpfen um das Praktische Jahr

Mit dem Praktischen Jahr beenden Medizinstudierende ihre Ausbildung – es soll sie bestmöglich auf den Berufsalltag vorbereiten. In der Realität kommt allerdings meistens ein Jahr mit spärlicher Bezahlung, wenn überhaupt, und inadäquaten Aufgaben auf sie zu. Wie genau sich das ausdrückt und welche Folgen es hat, berichtet unser Autor Micha aus Gießen.

Enthusiastisch, aufgeregt und laut durchqueren die Demonstrierenden die Innenstadt. Viele von ihnen nehmen zum ersten Mal an einem Protestzug teil. Die selbstgemalten Schilder und Sprechchöre drücken die allgemeine Wut und Frustration der Beteiligten aus. Überraschend ist die joviale Stimmung der Beteiligten – die Freude daran sich endlich Gehör zu verschaffen ist, im Gegensatz zu manch anderer Demo, beinahe greifbar.

Die gestellten Forderungen nach angemessener Behandlung am Arbeitsplatz, fairer Bezahlung und adäquater Aus- und Weiterbildung werden jedoch an diesem Tag nicht von Arbeiter*innen im klassischen Sinne gestellt, sondern von Studierenden der Medizin. Konkret geht es um das sogenannte Praktische Jahr (PJ) ihres Studiums. Es bildet den letzten Abschnitt der ärztlichen Ausbildung und ist in drei viermonatige Praxiseinsätze aufgeteilt, die in unterschiedlichen Fachrichtungen zu absolvieren sind. Eigentlich sollen Studierende in dieser Zeit die vorher theoretisch erlernten Fähigkeiten und Inhalte praktisch in der Klinik anwenden dürfen, um danach bestmöglich auf den Berufsalltag vorbereitet zu sein. Die Realität sieht jedoch anders aus.

Je nach Einrichtung variieren die Bezahlung und Ausbildung der Studierenden von akzeptabel bis de facto nicht vorhanden. Hinzu kommt der immense Druck, unter dem sie in dieser Zeit im Schichtsystem bei minimaler Bezahlung arbeiten und oftmals die Aufgaben der Assistenzärzt*innen übernehmen müssen. Gleichzeitig gibt es Häuser und Abteilungen, in denen Studierende im PJ lediglich als Blutentnahmedienst und Kuriere genutzt werden, sodass die Ausbildung an Patient*innen sogar komplett entfällt.

Diese Form der Ausbeutung wird vom gewinnorientierten Gesundheitssystem angetrieben, das mit den PJler*innen jedes Jahr auf eine verlässlich eintreffende Menge von Billigarbeitskräften zurückgreifen kann. Der starke Wunsch der Studierenden mitzuarbeiten und zu lernen, verschlimmert diesen Umstand oftmals, da ihnen so noch mehr ärztliche Aufgaben delegiert werden, ohne dass ein didaktisches Konzept dahintersteht.

Seitens der Studierenden wird dies alles mitunter zynisch geschildert, kennen sie die Auswirkungen der kapitalistischen Gesundheitsversorgung doch bereits aus früheren Abschnitten ihres Studiums. So kommt es zum Beispiel regelmäßig zum Ausfall von Lehrveranstaltungen, weil Dozierende, oft gleichzeitig angestellte Ärzt*innen der jeweiligen Uniklinik, diese wegen beruflicher Überlastung nicht abhalten können. Im Allgemeinen sieht es so aus: Je höher die Belastung der Mitarbeitenden einer Klinik, umso schlechter die dort stattfindende Lehre. Das Konzept »Profit vor Ausbildung« ist bereits früh allgegenwärtig.

Wie kann es vor diesem Hintergrund der kapitalistischen Zersetzung eines ganzen Studienganges sein, das linke (hochschul-)politische Gruppen es versäumen diese Bewegung zu unterstützen? Warum werden ihre Forderungen von Sozialist*innen nicht lautstärker vertreten und die benannten Missstände nicht als Symptome unseres derzeitigen allgemein widersprüchlichen Gesellschaftssystems eingeordnet?

Vermutlich sind mehrere Faktoren hierfür verantwortlich. Medizinische Fachbereiche haben vor allem aufgrund der Besonderheiten des Studiums oft den Charakter einer Blackbox, in dem man zwar untereinander eng vernetzt, der Kontakt zu anderen Studiengängen oder Gruppen an der Hochschule jedoch gering ist. Verstärkt wird dieser Effekt durch einen mal unterschwelligen, mal offen kommunizierten Elitarismus-Gedanken, welcher auch von Dozierenden reproduziert wird und das Studium wie kaum ein anderes prägt. Jenes Gefühl der Exklusivität fördert nicht nur die Entfremdung zu anderen Studierenden, sondern wird auch zur Rechtfertigung unangemessener Studien- und Arbeitsbelastungen instrumentalisiert. Weiterhin wird Medizinstudierenden, leider auch von linker Seite, zu oft Desinteresse an sozialistischen Ideen sowie eine gehoben bürgerliche Herkunft unterstellt. Verbunden mit dem hohen Einstiegsgehalt von Mediziner*innen konstruiert sich daraus oft die holprige Parole man möge sich wegen eines Jahres doch nicht so anstellen.

Doch hält man einmal inne, so sind die Bestrebungen der Studierenden (aus Versehen?) zutiefst sozialistisch: faire Behandlung der Arbeiter*innen, angemessene Löhne, geregelte Ausbildung, kein Profit mit der Lehre. Ob bewusst oder unbewusst werden die Widersprüche und Probleme des Kapitalismus von ihnen nicht bloß wahrgenommen, sondern nun auch schonungslos und lautstark dargelegt. Selbst radikale Maßnahmen, wie eine komplette Verstaatlichung des Gesundheitswesens, finden hier mitunter regen Zuspruch.

Entgegen vermeintlichen Ressentiments zwischen Vetreter*innen linker Ideen und Medizinstudierenden besteht hier die große Chance nicht nur zu politisieren, sondern sogar sozialistische Konzepte attraktiv und praktisch vorzustellen! Es gilt die gegenseitige Abkapselung nicht fortzusetzen, sondern im Gegenteil endlich aufzubrechen und gemeinsam zu kämpfen. Die Chance Medizinstudierende abzuholen und zu integrieren sollte nicht versäumt werden. Daher sei an dieser Stelle ausdrücklich dazu aufgerufen, die Proteste der Studierenden an der eigenen Hochschule und darüber hinaus politisch und organisatorisch zu unterstützen.

Es geht immerhin nicht bloß um bessere Zustände an der Uni, sondern um das gesamte Gesundheitssystem, das von den künftigen Führungskräften gestaltet werden kann – den Studierenden von heute.

Micha S. studiert Humanmedizin, ist seit 2021 im SDS aktiv und war an den Protesten zum TVE beteiligt. Ziel seiner politischen Arbeit ist es, Studienbedingungen zu verbessern und wertschätzender zu gestalten, beispielsweise durch Praktika mit fester Vergütung.