02 Nov Universität als Demokratie
Vor 62 Jahren hat der historische SDS aufgeschrieben, wie sie die Universitäten umgestalten würden und was ihre Probleme sind. Was können wir daraus lernen?
1961 veröffentlichte der »Sozialistische Deutsche Studentenbund« (historischer SDS) im Verlag »Neue Kritik« die »Hochschuldenkschrift«. Auf 170 Seiten analysieren die Autor*innen darin die Rolle der Hochschulen im industriell entwickelten Kapitalismus und wie sie diese demokratisieren wollen. Sie entwerfen ein Reformmodell mit einer demokratischen Hochschulverfassung, partizipativen Studienplänen und sozialen Institutionen zur studentischen Daseinsvorsorge.
Die Ziele des SDS und der Studierendenbewegung scheiterten bis auf wenige Ausnahmen und die dadurch möglichen politischen Reaktion der 70er-Jahre – heute als Neoliberalisierung bekannt – kommerzialisierten die Universitäten weiter. Die Bologna-Reform hat dann 1999 das Hochschulsystem in Europa nochmal grundlegend verändert und ökonomisiert.
Bereits in der Einleitung stellen die sozialistischen Studierenden fest, dass die Universität in der Gesellschaft stets an ihren Leistungen gemessen wird. Ihre Aufgabe sei es »verwertbare Forschungsergebnisse« zu liefern und »wissenschaftlich qualifizierte Fachleute« auszubilden. Am ersten Ziel hat sich bis heute wenig geändert. Auch wenn die Universitäten zum allergrößten Teil aus öffentlicher Hand finanziert werden, sorgen Unterfinanzierung, Drittmittelausrichtung und Exzellenzstrategie dafür, dass sich Universitäten der kapitalistischen Verwertungslogik hingeben.
Vom zweiten Ziel hingegen haben sich Universitäten entfernt. Die wissenschaftliche Qualifizierung der Fachleute rückt zunehmend in den Hintergrund und statt Wissenschaftler*innen produziert das Hochschulsystem taugliche Arbeiter*innen für möglichst viele Bereiche der Wirtschaft. Die Universität ist ein zentrales Ausbildungsorgan der Privatwirtschaft geworden. Seit 1960 ist die Studienanfängerquote von 6 % auf 55,5 % in 2021 gestiegen. Dass Hochschulbildung zugänglicher wird ist gut, denn alle sollten die Möglichkeit haben eine Universität zu besuchen. Die Zahlen zeigen allerdings nicht das ganze Bild. Kinder aus Arbeiter*innenfamilien gehen weniger als halb so oft zur Universität, noch weniger machen einen Bachelorabschluss und nur ein Prozent der Arbeiter*innenkinder promoviert. Dagegen erwarten immer mehr Unternehmen einen Masterabschluss. Das wirkt sich auch auf die Abschlüsse selbst aus: Insbesondere duale Studiengänge sind immer stärker darauf ausgelegt qualifizierte Facharbeiter*innen zu schaffen, die nach dem Bachelorabschluss schon Berufserfahrung vorweisen können. Die Ausbildung an Universitäten sollte hingegen anders verstanden werden.
Als Leitprinzip an deutschen Universitäten gilt bis heute die »Einheit von Forschung und Lehre«. Wenn diese Einheit mehr als nur räumlich verstanden werden soll, so die Verfasser*innen der Denkschrift, müssen Studierende eine essenzielle Rolle im Wissenschaftsprozess spielen. Forscher*innen sind zugleich Dozierende und ihre Arbeit ist nicht bloß die Produktion von Forschungsergebnissen und das bloße Abspulen in der Lehre. Vielmehr soll die wissenschaftliche Arbeit als kollaborativer Prozess mit den Studierenden verstanden werden. Diese wiederum eignen sich nicht bloß die fertigen Lehrinhalte an, sondern sind im Prozess der Wissensproduktion beteiligt. Die »ständige Verpflichtung (…) zur Darstellung und Vermittlung der Arbeitsergebnisse« und ihrer Methoden würde die Erarbeitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen leiten und unter Prüfung stellen.
Nun sitzen die Probleme des deutschen Universitätssystem tiefer und dieser idealisierte Prozess der Wissenschaft ist zu selten erreichbar. Die Arbeit der Forscher*innen ist prekärer denn je, wie die Protestbewegung #IchBinHanna und #IchBinReyhan (Siehe S. 13) beklagt, und die Lehre wird zunehmend zur unbezahlten Nebentätigkeit. Gleichzeitig verschlechtert sich die soziale Lage der Studierenden zunehmend; 37 Prozent waren 2022 armutsgefährdet. Durch die Kürzungen im Bildungssektor verstärkt die Bundesregierung die Abhängigkeit der Universitäten von der Privatwirtschaft und mindert die Qualität der Wissenschaft selbst. Ein wirklich wissenschaftlicher Prozess benötigt daher ökonomische Unabhängigkeit (»Wissenschaftsfreiheit«) – kurz: eine Uni für jene, die darin lernen und lehren.
Maxi ist 22 und studiert in Düsseldorf Philosophie. Von den 68ern vermisst er die revolutionäre Stimmung und Radikalität, nicht aber die Frisuren.