03 Nov Wissenschaft für die Gesellschaft
Ein Blick in die Kritische Psychologie von Barbara Fried (stellv. Direktorin des Institut für Gesellschaftsanalyse, Rosa-Luxemburg-Stiftung)
Barbara, Du warst Teil der Kritischen Psychologie, einer Richtung, die Ende des 1960er Jahre an der Freien Universität Berlin entstanden ist. Kannst du kurz beschreiben, wie sie sich als kritische Wissenschaft dort institutionell verankern konnte?
Im Kontext der 68er-Bewegung haben Lehrende und Studierende am damaligen Psychologischen Institut angefangen sich mit Wissenschaftskritik und marxistischer Gesellschaftstheorie zu beschäftigen. Als Psycholog*innen hat sie zunächst die Frage interessiert, wie die Psychologie als Wissenschaft und als Praxis zu einer Stabilisierung von Herrschaft beiträgt. In einem nächsten Schritt haben sie diskutiert, wie eine Subjektwissenschaft aussehen müsste, die die Menschengemachtheit von Gesellschaft ernst nimmt, analysiert, wie wir als Einzelne in die bestehenden Herrschaftsverhältnisse eingebunden sind und die auch das Leiden an diesen als vergesellschaftetes Leiden versteht. Natürlich ging es auch um eine Befreiungsperspektive: Wie können wir unter diesen Bedingungen handlungsfähig werden? Und zwar gemeinsam gegen ‚oben‘ nicht durch Dominanz und in Konkurrenz zu anderen.
Um all diese Fragen wurde nicht nur politisch, sondern auch wissenschaftliche scharf diskutiert und gestritten, und der vorherrschende Strang der sogenannten Experimentalpsychologie als eine ‚Verdopplung‘ von Herrschaft durch Wissenschaft kritisiert. Irgendwann hatte die kritisierte Fraktion genug davon und hat ein eigenes Institut gegründet. Die Uni-Leitung ist dem Anliegen nachgekommen und hat das zweite psychologische Institut anerkannt. Für die nächsten 20 Jahre konnten man deshalb an der FU zwei völlig verschiedene Psychologie-Studiengänge absolvieren, die zum gleichen Abschluss geführt haben. Dass das so möglich war, war natürlich Ausdruck der damalige Kräfteverhältnisse.
Welche Folgen hatte das für Lehre und Wissenschaft?
Wissenschaftlich konnte sich die Kritisch Psychologie als marxistische Subjektwissenschaft nur durch diese Form der institutionellen Absicherung, also durch mehrere Stellen, unzählige Seminare, Abschlussarbeiten, Praxisforschung und entsprechende Diskussionszusammenhänge über die nächsten Jahrzehnte so entwickeln. Der demokratische Impetus, der ihr von Beginn an zu Grunde lag, hat sich auch in den folgenden Jahren erhalten. Noch als ich 1991 angefangen habe zu studieren gab es am PI eine Lehr- und Lernathmosphäre, die wirklich besonders war: Lehrende und Lernende haben trotz unterschiedlichem Wissensschatz auf Augenhöhe miteinander diskutiert, wir wurden als Lernende und als politische Subjekte mit unseren unterschiedlichen Interessen sehr ernst genommen. Es gab kaum feststehende Kurrikula, viele Themen und Fragen konnten eingebracht und bearbeitet werden. Und außer im Vordiplom und Diplom gab es keine Noten – diese Vorstellung lässt mit Blick auf die Schule selbst Grünen heute das Blut in den Adern stocken. Die vielleicht herausragendste institutionelle Besonderheit war aber das sogenannte Tutoriensystem: Es gab eine große Anzahl an Tutor*innen – vielleicht 15 – die nicht die Vorlesung der Profs nachbereiteten, sondern eigenständige Seminar anboten, für die jeweils ein Prof. formal die Verantwortung hatte. Faktisch wurden aber einfach die dort erworbenen Scheine gegengezeichnet. Dadurch sind studentische selbstorganisierte Lernräume entstanden, die nicht zusätzlich zum Lernpensum absolviert werden konnten, sondern in denen wir uns gemeinsam einen Großteil der Dinge selbst erarbeitet und angeeignet haben. Das waren sehr konzentrierte und motivierte Lernsituationen, in denen ich über die Hälfte meines Studiums absolviert habe. Dort war Raum für Kapitallesekurse und Grundlagen Marxscher Gesellschaftskritik, genauso wie für Einstiege in psychologische Geschlechterforschung, Rassismustheorien oder sozialpsychologische Fragen von Autoritarismus, Gehorsam und Herrschaft. Heute würde man vielleicht eher über Klimaangst und politische Erschöpfung diskutieren. Die Tutorien waren von Lehrenden begleitet und unterstützt, aber eben nicht dominiert. Diese Erfahrung war für mich am Anfang meines Studiums absolut beeindruckend und bis heute prägend.
Wie sah denn zusätzlich die studentische Selbstorganisation und die Selbstverwaltung aus?
Interessant an PI war, dass die Fragen einer anderen Lehr und Lernkultur nicht nur studentisch getragen waren, sondern aus einer gemeinsamen inhaltlichen Kritik am bestehenden Uni-Betrieb entsprangen. Entsprechend waren in den Anfängen auch die Institutsgremien paritätisch besetzt. Sowohl fachliche als auch institutionelle Belange wurden mit allen Angehörigen des Instituts – übrigens auch mit den nicht-wissenschaftlichen Angestellten – gemeinsam beraten. Aber natürlich gab es auch unter den Studis gut funktionierende Strukturen, wie eine regelmäßig arbeitende Fachschaftini aus der heraus Leute in die anderen universitären Gremien Fachbereich, AS und Kuratorium entsandt wurden. Im Rückblick scheinen mir aber die sog. Ersti-Tutorien besonders wichtig. Für die Erstsemester begann das Studium mit einer Orientierungswoche, die komplett von den Tutor*innen organisiert war. Dort wurden sowohl Fragen zum Studienalltag, Kursen, Scheinen etc. besprochen, aber es war von Anfang an ein politischer Raum, in dem unser Fach, mit seiner Geschichte, an dieser Uni, in dieser Gesellschaft zum Thema gemacht und die entsprechenden Möglichkeiten, sie einzubringen klar gemacht wurden. Die ‚Gegnerschaft‘ zur Unileitung, die Anfang der 90er Jahre das PI bereits abwickeln wollte, hat dazu natürlich beigetragen. Den meisten war vom ersten Tag an klar, worum hier gekämpft wird und was es zu verlieren gilt. Das schafft eine hohe Verbindlichkeit und ist ein Crahskurs in politischer Organisierung.
Trotz der vielversprechenden Ansätze ging das alles krachend in einer Neoliberalisierung unter, die institutionelle Verankerung konnte nicht bestehen bleiben. Was brauchen wir, deiner Meinung nach, heute um der Ökonomisierung der Hochschulen entgegenzutreten?
Unis sind als Orte für kollektiver Wissensproduktion, der Produktion von Theorie für linke oder sogar sozialistische Befreiung absolut zentral. Es geht ja heute nicht nur um Ökonomisierung, sondern in einer Zeit des »Post-Faktischen« geht es auch um die Kritik an rechten und autoritären Theorien und Wissensformen, um die Analyse diese Entwertung von Wissenschaft und den Kampf gegen rechte Einflüsse oder etwa wachsende Militärforschung – also wie damals braucht es auch eine Kritik an den Inhalten, nicht nur an deren Verwertung. Dazu ist eine starke Organisierung an den Unis nötig. Sie sind ja längst nicht mehr elitäre Elfenbeintürme, sondern Orte eines neuen Prekariats. Insofern müssen sie auch Orte linker Organisierung sein und das, was dort passiert muss noch stärker mit anderen Kämpfen, gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen zusammengebracht werden. Ihr als SDS macht das ja auf beeindruckende Weise!