06 Nov Nieder mit der Fuckademia!
Unter dem Hashtag #IchbinHanna werden Befristungspraxis und prekäre Arbeit in der Wissenschaft kritisiert. #IchbinReyhan geht darüber hinaus und lenkt die Aufmerksamkeit auf den tief verwurzelten Sexismus und Rassismus im deutschen Wissenschaftssystem.
Am 11. Juni 2021 schrieb Dr. Reyhan Şahin (@LadyBitchRay1) auf der ehemals als Twitter bekannten Kurznachrichtenplattform X: »Ich bin Reyhan, 39, Sprach-, Migrations- & Rassismusforscherin. Ich hatte noch nie ne Uni-Stelle, finanzierte meine Promotion, Postdoc (& jetzige Habilitation) mit selbst beantragten Stipendien. Forscher:innen of Color aus nicht-akademisierten Familien haben’s in der Fuckademia eindeutig schwerer als Kinder von weißen akademisierten Familien, & auch wenn das niemand zugibt, bekommst du es tagtäglich zu spüren. […] Nun sagt mir bitte: #BinIchHanna ? Werde ich jemals #IchbinHanna sein ? & kann ich als #IchbinHanna sprechen ? Nein. Das kann ich nicht. Denn #IchbinReyhan , werde immer #ReyhanBleiben & versuchen als Bildungsaufsteigerin of Color in diesen problematischen Strukturen zu überleben«.
#IchbinReyhan war geboren. Dieser Hashtag beleuchtet die blinden Flecken der Online-Kampagne #IchbinHanna, welche wiederum als Reaktion auf einen zynischen Erklärfilm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) entstand. #IchbinHanna kritisiert vor allem Befristungspraxis und prekäre Arbeitsbedingungen im akademischen Mittelbau. Die promovierte Linguistin und ehemalige Rapperin Şahin alias Lady Bitch Ray wiederum richtet mit ihrem Beitrag die Aufmerksamkeit auf diejenigen, die aufgrund der diversen Ausschlussmechanismen im deutschen Hochschulsystem gar nicht erst die Möglichkeit einer Anstellung im akademischen Betrieb erhalten. Heute werden die beiden Hashtags gerne in Kombination an einschlägige Tweets angehängt.
In ihrem 2019 erschienenen Sachbuch »Yalla, Feminismus!« kritisiert Şahin die Nachwehen der 700 komplett frauenlosen Jahre in der Geschichte der deutschen Wissenschaft, die bis heute zu spüren sind. Erst vor etwa 100 Jahren öffneten sich die Universitäten für weibliche Studierende. Auch Schwarze Menschen und People of Color sieht Şahin, selbst Tochter von Arbeitsmigrant*innen, unterrepräsentiert und prangert die sogenannte Tokenisierungs-Praxis der deutschen Hochschulen an, durch die Diversität lediglich vorgetäuscht wird. Bis auf die damit einhergehende Präsenz Schwarzer Wissenschaftler*innen und/oder Wissenschaftler*innen of Color in öffentlichkeitswirksamen Positionen, ist für sie echte Vielfalt an den deutschen Unis nicht in Sicht. Şahin sah sich zudem mehrfach damit konfrontiert, Forschungsvorhaben und Stellen an Universitäten aufgrund ihrer musikalischen Vergangenheit verwehrt zu bekommen – wobei immer so getan wurde, als schränke ihre Tätigkeit als Rapperin Lady Bitch Ray ihre wissenschaftliche Kompetenz ein. Als Person, die sich sowohl in der Rapwelt als auch in der deutschen Unilandschaft bewegt(e), resümierte sie einst in der Süddeutschen Zeitung, dass »gegen den Sexismus in der Wissenschaft Rap ein Kindergeburtstag« sei.
Eine umfassende Kapitalismusanalyse, die neben der Sphäre der Produktion auch nichtökonomische Faktoren einschließt, zeigt uns auf, wie unser Gesellschaftssystem Rassismus und Sexismus bedingt. Diese Strukturen schlagen sich auch im Wissenschaftsbetrieb nieder und müssen dort, wie im Rest der Gesellschaft, bekämpft werden. Deshalb reicht #IchbinHanna nicht aus. Durch das Hinzuziehen von Şahins Kritik an patriarchalen Machtasymmetrien, systematischer Diskriminierung Schwarzer Wissenschaftler*innen und/oder Wissenschaftler*innen of Color und der Verweigerung der Fuckademia allen gegenüber, die sich diesem System nicht anpassen wollen, können wir unseren Horizont erweitern, wie sich der Kampf für ein emanzipatorisches Hochschulsystem gestalten sollte.
Şahin selbst zieht in in »Yalla, Feminismus« folgendes Fazit: »Deshalb habe ich mir vor einigen Jahren ein eigenes Institut in meinem Kopf gegründet, im Rahmen dessen ich unabhängig und selbstständig, ohne jeglichen Hierarchiedruck oder Ausgrenzungen in Ruhe arbeiten kann. Meine Arbeitsplätze sind die Bibliotheken der deutschen Universitäten – kann ich nur allen unabhängigen, kritischen und diskriminierten Dr. Bitches weiterempfehlen, ein Hoch auf diese gut klimatisierten Bitchiotheken!«
Es gilt dafür zu kämpfen, dass die kritischen Dr. Bitches dieses Landes in den Instituten deutscher Unis ankommen – damit der gemeinsame Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen von Reyhan und Hanna endlich zum Erfolg führt.
Lea studiert Medienwissenschaft in Bonn und arbeitet als wissenschafltiche Hilfskraft. Im Kampf für TVStud wünscht sie sich Solidarität vom wissenschaftlichen Mittelbau.