Der Teufel sitzt nicht im Detail, sondern im Kapitalismus – Teil I

Der Teufel sitzt nicht im Detail, sondern im Kapitalismus – Teil I

Unser Autor analysiert in diesem und zwei weiteren Teilen, was es mit der aktuell wieder aufkommenden Migrationsdebatte eigentlich auf sich hat und was der westliche Kolonialismus dabei für eine Rolle spielt.

Die Migrationsproblematik wird hierzulande als Rechtfertigungsgrund für die Massaker an der palästinensischen Bevölkerung zunehmend verknüpft mit der Kritik am Islam, Islamismus und muslimischen Menschen. Damit hat Rassismus sowohl innenpolitisch, als auch außenpolitisch eine zentrale Funktion: Er lenkt ab von den Rahmenbedingungen für Migration in den letzten 100 Jahren, die bestimmt waren durch (Welt-)Kriege, Armut und Arbeitsmarktanforderungen. Dieser Text soll aufklären über solche Ablenkungsdebatten über den Islam. Statt der »Islamkritik« benötigt es eine Herrschaftskritik, die Ursachen benennt!

Wissenschaftliche Sicht statt selektiver Moral

Ideen wie der »radikale Islam« entstehen auf Grundlage konkreter Verhältnisse. Sie sind Abbilder von Interessen, so die klassisch historisch-materialistische Sichtweise. Statt Ideen als isolierte Einzelereignisse zu betrachten, soll dieser Artikel eine kritische Wissenschaftsperspektive näherbringen. Der kritische Psychologe Klaus Holzkamp definiert »kritische Wissenschaft« in der Zeitschrift »Forum Kritische Psychologie« als:

»ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen, [..]. Demnach ist Wissenschaft quasi als solche Kritik und Selbstkritik: Aber nicht die konkurrenzbestimmte profilierungssüchtige Kritik vieler bürgerlicher Intellektueller, sondern eine Kritik zur Durchsetzung des menschlichen Er­kenntnisfortschritts im Interesse aller Menschen gegen die bornierten Inter­essen der Herrschenden an der Fortdauer menschlicher Fremdbestimmung und Unmündigkeit.«

Gleichzeitig ist Wissenschaft ein nie abgeschlossener Prozess von Erkenntnisgewinn. Nach Marx bräuchte es keine Wissenschaft, wenn Wesen und Erscheinung zusammenfielen: Wenn also Gesamtzusammenhang und einzelne situative Geschehnisse zeitgleich erschienen und wahrnehmbar wären. Beispielsweise kann die Geschichtswissenschaft nicht nur eine Nacherzählung von einzelnen Ereignissen sein, sondern sie muss über Kausalbeziehungen und Ursachen aufklären. Spätestens seit der Bologna-Reform funktioniert die heutige institutionelle Form von Wissensaneignung und Bildung jedoch immer stärker durch Modularisierung, Zerstückelung und Ansammlung von zufälligem Faktenwissen (was auch eine Suchmaschine wie Google leisten kann) statt Zusammenhänge und Analyse.

Diese Art von zerstückelter Informationssammlung statt Wissen, spielt eine große Rolle, wenn herausstechende Ereignisse wie der Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine am 24.02.2022 oder die Terroranschläge der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres gesellschaftlich entkontextualisiert behandelt werden. Es wird so getan als gäbe es vor dem 24.02.2022 keine Beziehung zwischen Russland und der Ukraine – im Falle Russlands wird dem Präsidenten Irrationalismus und Wahnsinn bescheinigt. Mit dieser Argumentation sollen die eigentlichen Interessenslagen und Ursachen des Krieges verschwiegen werden. Die Hessische/Niedersächsische Allgemeine Zeitung (hna) titelte im Mai 2022: »Ist Putin schwer krank oder gar ‚verrückt geworden‘? Experten äußern Sorge«. Die Schweizer Boulevardzeitung spekulierte sogar über eine mögliche Corona-Erkrankung als Ursache des Krieges in der Ukraine: »Hat Long Covid damit zu tun? Politiker behaupten: Putin ist ‚verrückt‘ geworden«. Dass diese Erklärungsweisen in der sogenannten »Mitte der Gesellschaft« salonfähig sind, zeugt von der Absurdität des Wissenschafts- und Journalismusverständnisses der bürgerlichen Kräfte. Ähnliche Verfahrensweisen erleben wir auch in Bezug auf den Islam insgesamt und die Hamas im Besonderen als Legitimation für Rassismus.

Das Herauspicken von einzelnen Ereignissen prägt aktuell besonders das außenpolitische Denken, ebenso aber auch unser Bild von der Hamas oder dem »radikalen Islam«. All diese Schlagwörter sind für uns in bestimmten politischen Kategorien eingerahmt ohne, dass das Wesen dieser Erscheinungen näher betrachtet wird.

Gewalt zieht Gewalt an – kein Islamismus ohne Kolonialismus

Die folgende Argumentation geht davon aus, dass in allen Weltreligionen und weltumspannend Ideen vorherrschen, die menschenfeindlich angewandt werden können. Genauso kann das Christentum und das Alte Testament als Legitimationsgrundlage für Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und bis heute andauernde Unterdrückung dienen. Dasselbe Christentum kann jedoch auch die Grundlage für die Etablierung einer globalen Gerechtigkeitsbewegung, Widerstand im NS-Regime wie beispielsweise von Martin Niemöller, sowie Friedensappelle vom Papst bilden. Ähnlich im Islam. Daher kommt es stärker auf die materiellen Gegebenheiten an und die Frage, ob diese Ideen auch Subjekte finden. Statt also den hierzulande konstruierten Zusammenhang zwischen fundamental-religiösen islamischen Werten und Demokratiedefiziten in muslimisch geprägten Ländern auszumachen, muss stärker auf die materiellen Gegebenheiten eingegangen werden. Im Zusammenhang mit dem Islam und den politischen Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten kann daher nicht der Kolonialismus verschwiegen werden. Dieser ist eine der Hauptursache dafür, dass die muslimisch geprägten Länder in Westasien und Nordafrika eben keine bürgerlich-liberale Demokratie nach europäischem »Vorbild« entwickeln konnten und darin bis heute die Wurzel von vielerlei Konflikten liegt.

Yusuf, 28, studiert Politikwissenschaften in Marburg und beschäftigt sich unter anderem mit Ursachen von Rassismus.