01 Jun Die Nakba hält bis heute an
Die massiven Kriegsverbrechen, die der israelische Staat im Zuge der aktuellen Eskalation seit mehr als einem halben Jahr im Gaza-Streifen begeht, sind ein neuer trauriger Höhepunkt einer langen Geschichte der Vertreibung, Unterdrückung und Ermordung von Palästinenser*innen. Die Bombardierung und Aushungerung der palästinensischen Zivilbevölkerung, die Israel mit Unterstützung Deutschlands und anderer westlicher Staaten vorantreibt, zeigen auf die brutalst mögliche Weise, dass die Nakba, die „Katastrophe“, für Palästinenser*innen nicht bloß ein historisches Datum, sondern bis heute traurige Realität ist.
Am 15. Mai dieses Jahres jährt sich die Nakba zum 76sten mal. Der Begriff bezieht sich ursprünglich auf die gewaltsame Vertreibung von ca. 700.000 Palästinenser*innen, d.h. mehr als ¾ der damaligen palästinensischen Bevölkerung, durch zionistische Milizen und das israelische Militär in der Zeit der israelischen Staatsgründung zwischen 1947 und 1949.
Zionisten, wie David Ben Gurion, die später zu führenden und bis heute gefeierten israelischen Politikern wurden, haben damals systematisch die ethnische Säuberung palästinensischer Gebiete geplant und durchgeführt, um einen Staat mit jüdischstämmiger Mehrheit zu schaffen.
Bei mehreren Massakern in dieser Zeit wurden ganze Dörfer ausgelöscht.
So wurden zum Beispiel im April 1948 in dem palästinensischen Dorf Deir Yasin bei Jerusalem mehr als 100 Zivi-list*innen auf brutale Weise ermordet, darunter viele Frauen und Kinder. Die hunderttausenden Palästinenser*innen, die in der Folge der Massaker und des Krieges aus ihrer Heimat flohen und vertrieben wurden, wurden staatenlos und sie und ihre Nachkommen leben häufig immer noch unter prekären Umständen in Flüchtlingslagern, weil ihnen die Rückkehr in ihre Heimat vom israelischen Staat verwehrt wird. Im Zuge des Krieges wurde ein großer Teil der palästinensischen Gebiete von Israel annektiert und die palästinensischen Besitzer*innen enteignet. Palästinensische Kultur und Moscheen wurden zerstört und historische arabische Ortsnamen durch hebräische ersetzt.
Die Entwicklung des Zionismus ist seit ihrem Beginn eng mit der rassistischen europäischen Kolonialpolitik verbunden. Palästinenser*innen wurden und werden nicht als vollwertige Menschen angesehen. Ihr Land wurde als Land ohne Volk betrachtet, das durch europäische Siedler*innen zivilisiert werden müsse. Noch heute sprechen europäische Politiker*innen immer wieder von dem rassistischen Mythos, nach dem die zionistischen Siedler*innen die Wüste haben blühen lassen und ignorieren damit völlig die arabische Bevölkerung, die die Region seit Jahrhunderten geprägt hat und die während der Nakba größtenteils vertrieben wurde. Europäische Kolonialmächte, allen voran Großbritannien, haben das zionistische Projekt schon früh, nicht zuletzt aus antisemitischen Gründen, unterstützt und tun es noch heute. (Für eine ausführliche Darstellung ist Tom Segevs Buch Es war einmal ein Palästina zu empfehlen!)
Die Nakba war das Resultat einer Kernidee des Zionismus, dessen Vertreter sich seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert für die systematische Zersetzung der palästinensischen Mehrheitsbevölkerung durch eine jüdische ausgesprochen haben. Und dieser Prozess endete nicht 1949, sondern er hält bis heute an. Palästinenser*innen in der besetzten Westbank und im Gazastreifen werden seit Jahrzehnten brutal unterdrückt und sind ständig der Gewalt der israelischen Besatzungsmacht ausgesetzt. Die Zahl der zionistischen Siedler*innen, die palästinensisches Land in der Westbank für sich in Anspruch nehmen, wächst immer weiter an und auch Palästinenser*innen mit israelischem Pass werden weiterhin diskriminiert. Die aktuelle Eskalation kann nur in diesem historischen Kontext verstanden werden.
Doch nicht nur in den vom Staat Israel beherrschten Gebieten werden Palästinenser*innen tagtäglich direkter und indirekter Gewalt ausgesetzt und entrechtet. Die systematische Unterdrückung reicht über Grenzen hinaus. Wer sich hier in Deutschland palästinasolidarisch äußert, wer über die historischen Geschehnisse und die heutige Situation in den palästinensischen Gebieten und im israelischen Staatsgebiet aufklärt, kurz gesagt auf die andauernde Katastrophe und die täglichen Menschenrechtsverletzungen hinweist, hat mit zahlreichen Repressionen zu rechnen.
Palästinasolidarische Veranstaltungen werden schon im Vornherein mit dem Vorwurf der „Volksverhetzung und Gewaltverherrlichung“ verboten. Ist es nicht gerade Volksverhetzung, die brutale Vertreibung hunderttausender Menschen zu verschweigen, bis gar zu leugnen? Ist es nicht gerade als gewaltverherrlichend, ja eindeutig als gewalttätig zu verurteilen, wenn Personen, die für die Rechte von Palästinenser*innen einstehen, von rassistischen Mitmenschen angegriffen werden? Ist es nicht pure Gewalt, wenn Personen, die von der Polizei als „palästinensisch-aussehend“ bezeichnet werden, gewaltsam und unter Schmerzgriffen festgenommen werden?
Das ist keine Übertreibung, sondern alltägliche Repression gegen Menschen, die ihre Stimme gegen das Unrecht erheben und als solidarisches Zeichen palästinensische Symbole tragen.
Die Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden mit dem Staat Israel, die im deutschen Antisemitismusdiskurs an der Tagesordnung ist, ist selbst antisemitisch. Fast immer, wenn in großen deutschen Medien von Antisemitismus die Rede ist, liegt der Fokus auf dem sogenannten importieren Antisemitismus. Der tief verwurzelte und weit verbreitete Antisemitismus, der in Deut-schland vor allem von Nazis und an-deren Deutschen ausgeht, wird in den Hintergrund gedrängt. Dem Kampf ge-gen Antisemitismus wird durch den rassistisch geprägten Diskurs in Deutschland so ein Bärendienst erwiesen.
Wir kämpfen für die Befreiung der Palästinenser*innen und aller Menschen, die in der Region leben. Wir wollen das gute Leben für alle, unabhängig von Religion oder Volkszugehörigkeit. Wir sind solidarisch mit linken Israelis und Jüdinnen und Juden weltweit, die die zionistische Politik ablehnen und ge-meinsam mit den Palästinenser*innen für ihre Befreiung kämpfen und die dafür gerade im Nazi-Nachfolgestaat Deutschland selbst oft Unterdrückung und Diffamierung erfahren müssen.
Auf die Repressionen gegen palästina-solidarische Gruppen und die Diskreditierung als Antisemit*innen reagiert man nicht, indem man verstummt und das Leid verschweigt.
Wenn wir aus Angst vor Repressionen unsere Solidarität aufgeben, dann haben die Rechten und die Rassisten gewonnen! Wenn wir gespalten werden, wenn wir wegen der Verleumdungen keine Position mehr beziehen, dann haben sie ihr Ziel erreicht! Die herrschenden bürgerlichen Bilder und Denkweisen können nur dann überwunden werden, wenn wir ihnen auch etwas entgegenstellen.
Und warum sollten wir unsere Positionen auch zurückhalten? Ist es nicht die richtige Position, massive Bombenangriffe in einem der am dichtesten bewohnten Gebiete der Welt zu verurteilen? Ist es nicht die richtige Position, gegen die fortwährende Vertreibung und Aushungerung von hunderttausenden von Menschen zu sein? Ist es nicht die einzig richtige Position, ein Ende der Besatzung Palästinas zu fordern? Die Reaktionären nutzen Repression und Diffamierung, denn der Kern ihrer Ideologie kann einer genaueren Betrachtung nicht standhalten, ohne ihre Menschenfeindlichkeit zu offenbaren. Darum sollten wir unsere Positionen offen vortragen und ihre entblößen!
Hoch die internationale Solidarität, viva Palästina!
Jan promoviert in Physik und ist seit zwei Jahren beim SDS in Münster aktiv