06 Nov Wissenschaft für gerechten Frieden in Palästina – Was sagen die Fachdisziplinen dazu?
Friedenswissenschaft zur Leitdisziplin: Friedenswissenschaft kann nicht nur als eigenes Fach verstanden werden, sondern als Aufgabe jeder Wissenschaftsdisziplin: Wofür werden wissenschaftliche Erkenntnisse verwendet? Dienen sie der Legitimation von Krieg oder der Aufklärung für den Frieden? Diese Fragen stellen sich 3 Studierende aus den Fachdisziplinen des Völkerrechts, der Friedens- und Konfliktforschung sowie der Islamwissenschaft in Bezug auf die Aktualität der andauernden Kriege, Vertreibungen und der Historie Palästinas. Die Beiträge gehen der Frage nach, welchen Beitrag ihre Disziplin zum Frieden leisten sollte und warum sie Kritik an der Entwicklung ihres Fachs erheben.
Die Relevanz der Friedenswissenschaft begründen wir als SDS daraus, dass Universitäten im Kapitalismus eine Doppelfunktion innehaben. Zum einen bieten sie neue Formen der »Berufsausbildungen«, welche durch das modularisierte Bologna-System zunehmend deformierte Persönlichkeiten hervorbringt. »Halb dumm, halb schlau« kommen Studierende so aus der Uni raus. Als angehende Wissenschaftler*innen sind sie hochspezialisiert, können ihr Wissen aber nicht in einen weltlichen Zusammenhang einordnen. Zum anderen besitzen sie Forschungsapparate, die die Konkurrenzposition der Herrschenden im internationalen Kapitaldschungel heben sollen und als ideologischer Apparat der öffentlichen Meinungsbildung dienen. Universitäten sollen das Wissen vermitteln, das in der Gesellschaft gefördert werden soll. Kritisches Denken wird durch Drittmittelabhängigkeit und Unterfinanzierung systematisch verhindert. So werden Erkenntnisse produziert, die die aktuelle Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung stützen – und schon gar nicht in Konflikt mit Ihr geraten.
Am deutlichsten ist dies wohl beim Thema Palästina: Die Universitätslandschaft steht unter Druck, sich nicht zum Krieg und laufenden Genozid zu positionieren, obwohl alle wissenschaftlichen Erkenntnisse gegen Waffenlieferungen sowie Eskalationsspiralen sprechen. Auch sind Kriege für die Klima-, Ungleichheits- sowie Geschlechterforschung mit katastrophalen Auswirkungen verbunden. Die Zivilklauseln, mit der etwa 70 Universitäten sich selbst verpflichten nicht-militärisch zu forschen, setzen die wichtigste Frage in Wissenschaften auf die Tagesordnung: Wozu dient jede einzelne Forschung? Ärzt*innen beantworten diese Frage seit Jahrhunderten mit dem hippokratischen Eid. Einen solchen brauchen wir auch für jede andere Wissenschaftsdisziplin, besonders in Puncto Frieden!
Kriegs-Verwaltung oder Friedens-Förderung? Die Friedens- und Konfliktforschung und Palästina
Die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland ist aus der Friedensbewegung der 50er und 60er Jahre entstanden. Die Abhängigkeit von Fördermitteln hat jedoch von der ursprünglich systemkritischen Ausrichtung wenig übriggelassen. An ihre Stelle sind Politikberatung und auf Entwicklungsarbeit begrenzte Anwendungsorientierung getreten.
Es ist Ausdruck dieser Entwicklung, dass ein Konflikt, der jahrelang als ergiebiges Fallbeispiel für die Forschung und gut finanziertes Praxisfeld der Friedensförderung diente, in einen Genozid mündet – der politisch und militärisch von ein und derselben Regierung unterstützt wird wie besagte Forschungs- und Praxisprojekte. Eine entpolitisierte Forschung hatte weder der Ausbreitung israelischen Territoriums und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung etwas entgegenzusetzen, noch trat sie in Konflikt mit der deutschen Außenpolitik, die sich auf humanitäre Unterstützung für Palästinenser*innen begrenzt, während die militärische und politische Unterstützung allein Israel gilt. So wollte sich Deutschland als uneingeschränkter Partner Israels von der Nazi-Vergangenheit reinwaschen und sich gleichzeitig gegenüber der palästinensischen Bevölkerung als großzügiger Unterstützer von humanitären, Friedens- und Menschenrechtsorganisationen präsentieren. Die externe Finanzierung solcher Organisationen trug dazu bei, dass anstelle einer tatsächlichen Friedensförderung nur die Verwaltung ungerechter Zustände betrieben wurde. Die Friedens- und Konfliktforschung muss das Scheitern dieser Ansätze aufarbeiten und den historischen und globalen Kontext ins Zentrum der Konfliktanalyse rücken. Mit einem Verständnis von Konflikten als Katalysatoren für gesellschaftlichen Wandel und von positivem Frieden als Abwesenheit struktureller Gewalt, lauten die Kernfragen auf der Suche nach Lösungen: Welche Unterdrückungsverhältnisse haben zur Eskalation geführt? Und: Wie lassen sie sich beenden? Das aktuelle Friedensgutachten des PRIF, die Empfehlungen des Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie zahlreiche UN-Resolutionen und Berichte von Menschenrechtsorganisationen sind dafür richtungsweisend. Die Friedens- und Konfliktforschung, als interdisziplinäre, praxisorientierte Forschungsrichtung, muss dabei kurzfristige Maßnahmen, mit denen die akute Not beendet werden soll, in die langfristige Perspektive eines positiven, also gerechten Friedens stellen.
Wissenschaft im Schatten: Die Totenstille der Islamwissenschaften und der Ruf nach Frieden in Palästina
Die Islamwissenschaft, früher »Orientalistik« behandelt an ihren Instituten weder das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung, Indonesien, noch beschäftigt sie sich bisher tiefgreifend mit europäischem oder amerikanischem Islam. Vielmehr betreibt sie kulturelle- und historische Studien in einem Raum zwischen Marokko und den Ausläufern des Mogulreichs. Dass sie sich über den Genozid an den Palästinser*innen nicht zu Wort meldet, liegt vielmehr an den hiesigen Verhältnissen als an ihrer Ausrichtung.
Anders als in England und Frankreich entstand sie nicht allein im Dienste deutscher Kolonialpolitik. Unschuldig war sie jedoch nicht: Der prägende Orientalist Carl H. Becker lehrte am Kolonialinstitut Hamburg, das deutsche Kolonialbeamte ausbilden sollte. Auch im deutschen Faschismus sollte die Islamwissenschaft eine Rolle spielen, z.B. mit einer arabischen Übersetzung von »Mein Kampf«.
Eine Zäsur innerhalb des Fachs war Edward Saids Kritik des »Orientalismus«, einer Ansammlung rassistischer Stereotype, die sich als Pseudowissenschaft verselbstständigt hatte. Als »islamisch« oder »orientalisch« deklarierte Identitäten seien triebgesteuert, fanatisch, unzivilisiert, kurzum: keine richtigen Menschen mit Rechten. Aktuelle Beispiele für diese Ideologie zeigt die Berichterstattung über Palästinenser*innen.
Was erklärt jedoch die relative Stille der Islamwissenschaft? Zum einen sicher die aggressiven Medienkampagnen gegenüber Professor*innen (»Universitäter«): Niemand möchte den Ruch des Antisemitismus oder der Terrorismusverharmlosung an sich haben oder einen Schauprozess in der Tradition McCarthys durchlaufen, wie es Harvards Direktorin Claudine Gay geschah. Fakt ist aber auch, dass Islamwissenschaftler*innen, auch zu anderen Themen wie dem Krieg im Yemen oder Sudan, nicht dieselbe Bühne erhalten wie »Nahostexperten«, die genehme Wahrheiten verkaufen können.
Was ist also die Aufgabe von Islamwissenschaftler*innen, die gegen den Genozid aktiv sein wollen? Zuerst natürlich, sich zu organisieren – der Konflikt muss mit politischer Macht gewonnen werden. Der wichtigste islamwissenschaftliche Beitrag ist dabei das »Entzaubern« üblicher Narrative, wie dass es sich um einen »religiösen Konflikt« handele. Neben dem inhaltlichen Kampf müssen sie die Rolle der Islamwissenschaft in der Gesellschaft in Frage stellen: Ist sie eine Ausbildungsstelle für deutsche Kapital- und Staatsinteressen? Oder hat sie eine Verpflichtung gegenüber den Menschen, deren Kultur sie untersucht?
Das Völkerrecht: Eine Chance für Frieden oder Wortklauberei?
Das Völkerrecht regelt, grob gesagt, die Beziehungen zwischen souveränen Staaten und zu internationalen Akteuren. Als solches existiert das Völkerrecht seit Jahrhunderten. Heute denken wir beim Völkerrecht vor allem an das humanitäre Völkerrecht und an das Völkerstrafrecht, das aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist. Wir denken an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriffskrieg und Völkermord und fordern ein Ende des Tötens und der Straflosigkeit. In der Praxis jedoch nutzen mächtige Staaten das Völkerrecht oft zur Legitimierung ihrer Interessen und ignorieren es, wenn es ihnen nicht passt. So im Fall Palästinas: Der Internationale Gerichtshof stellte im Juli fest, dass die israelische Besatzung Palästinas nicht vorübergehend ist, sondern das Ziel verfolgt, das palästinensische Volk zu unterdrücken und ihm sein Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern. Trotz der Verpflichtung aller Staaten, diese unrechtmäßige Besatzung nicht anzuerkennen, wiesen viele »westliche« Staaten, darunter Deutschland, das Gutachten als nicht bindend zurück. Dabei wird ignoriert, dass diese Verpflichtung auf der UN-Charta, Sicherheitsratsbeschlüssen, Menschenrechtsnormen, humanitärem Völkerrecht und Völkergewohnheitsrecht basiert und bindend ist.
Auch die bürgerliche Rechtswissenschaft trägt Verantwortung, wenn sie unkritisch Rechtskonstrukte entwickelt, die solche Zustände rechtfertigen, strukturelle Konfliktursachen ignoriert oder durch einseitige Normauslegungen die Staatsräson stützt. Während Marco Buschmann im Fall des Haftbefehls gegen Putin erklärte, dass Deutschland ihn ausliefern wird, sobald er deutsches Territorium betritt, erklärte die deutsche Beauftragte in Fragen des Völkerrechts dem Internationalem Strafgerichtshof, dass der Antrag auf Haftbefehl gegen Netanjahu nicht zulässig sei. Im Gegensatz zu solchen kriegslegitimierenden Auslegungen sollte eine friedensorientierte Rechtswissenschaft soziale und ökonomische Ungleichheiten analysieren und Lösungen entwickeln, um tatsächlich emanzipatorisch zu wirken.
Für die sozialistische Arbeit ist grundlegend zu erkennen, dass das Völkerrecht in seiner aktuellen Form vor allem die Interessen der Herrschenden stützt und dort, wo es über bestehende Machtstrukturen hinausgeht, untergraben oder umgangen wird. Allein wird es daher keine grundlegenden Veränderungen herbeiführen. Statt blind seine Einhaltung zu fordern, sollten wir es als eines von vielen Instrumenten im Kampf um globale Gerechtigkeit begreifen. Eine verstärkte Berufung auf das Völkerrecht darf nicht zu einer Verwaltung des Status quo führen, sondern muss auf eine Transformation zielen, die den Interessen der arbeitenden und unterdrückten Klassen dient und globale Ungerechtigkeiten überwindet – in Palästina und darüber hinaus.
Leonie studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung in Marburg, ist Sozialarbeiterin und bei der Seebrücke aktiv.
Michèle studiert Nahoststudien an der Universität Heidelberg.
Lara studiert im Master Internationale Strafjustiz in Marburg.
Konzeption: Hana Qetinaj studiert in Frankfurt am Main Politik und Volkswirtschaftslehre und hat seit kurzem die Redaktionsstelle der Critica inne. Sie ist im SDS und war im Palästina-Camp »Hinds Garden« aktiv, weil sie der Meinung ist, dass die Universitäten einen Beitrag für Frieden in der Welt leisten müssen.