Deutschlands Dilemma zwischen Staatsräson und Völkerrecht

Deutschlands Dilemma zwischen Staatsräson und Völkerrecht

In der Regierungspressekonferenz, welche ein Tag nach dem Erlass der Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu, den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant und den obersten Befehlshaber des militärischen Flügels der Hamas Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri durch die Vorverfahrenskammer I des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag stattfand, wurde deutlich: Die Bundesregierung hat sich sehenden Auges selbst in die Bredouille manövriert. Nun scheint es „Staatsräson vs. Völkerrecht“ zu heißen – und die Bundesregierung hat keine Antworten. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, weicht Fragen aus, verweist immer wieder auf die nichtssagende Pressemitteilung und erklärt, dass die Situation noch zu klären sei. Doch was gibt es da zu klären? 

Klarer Rechtsrahmen, widersprüchliche Politik

Bereits seit 2021 ist klar, dass der IStGH in der sogenannten „Situation in the State of Palestine“ ermitteln kann. Damit ist das Gericht befugt, Straftaten auf palästinensischem Gebiet – das heißt, dem Gazastreifen, dem Westjordanland und Ostjerusalem – zu verfolgen, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Verdächtigen. Dies gilt auch für israelische Staatsbürger*innen, obgleich Israel kein IStGH-Mitgliedstaat ist. Weiter gilt, dass die Verfahren des IStGH solange zulässig bleiben, wie Israel seine eigenen Staatsbürger*innen nicht vorrangig vor ein nationales Gericht stellt. Die aktuelle Situation, in der Israel keine eigenen strafrechtlichen Schritte unternimmt, um die angeklagten Straftaten zu verfolgen, wird als „inaction scenario“ bezeichnet. Erst sobald Israel im Sinne von „same conduct, same person“ Netanyahu und Gallant wegen derselben Tathergänge verklagen würde, die Gegenstand des Verfahrens vor dem IStGH sind, wäre das IStGH-Verfahren nicht mehr zulässig. Solche Verfahren dürften wiederum keine bloßen „Scheinverfahren“ sein, die lediglich darauf abzielen, die Beschuldigten vor einer internationalen Strafverfolgung zu schützen, da auch diese die Zulässigkeit der Verfahren vor dem IStGH nicht aufheben würden.

Hinzu kommt: Vertragsstaaten des IStGH sind zur Zusammenarbeit verpflichtet, was insbesondere bei der Vollstreckung von Haftbefehlen unerlässlich ist. Dies gilt auch gegenüber amtierenden Staatsoberhäuptern mit absoluter Immunität. Die herrschende Meinung im Völkerrecht sieht Immunitäten vor dem IStGH grundsätzlich als unbeachtlich an. Artikel 27 des Römischen Statuts regelt dies explizit und spiegelt zugleich gewohnheitsrechtliche Grundsätze wider, weshalb diese Regelung auch für Nicht-Vertragsstaaten wie Israel anwendbar ist.

Doppelte Standards

Diese Prinzipien hat die Bundesregierung im Fall des russischen Staatsoberhauptes Wladimir Putin nie infrage gestellt. Obwohl Russland ebenfalls kein Vertragsstaat des IStGH ist, erklärte der damalige Justizminister Marco Buschmann im März 2023, dass Putin verhaftet werde, sobald er deutschen Boden betrete. Doch wie geht die Bundesregierung mit den Haftbefehlen gegen Netanyahu und Gallant um? Während auf die Frage nach den offensichtlichen Doppelstandards ein entschlossenes Bekenntnis zum Völkerrecht zu erwarten gewesen wäre, wählt der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Christian Wagner, eine ausweichende Strategie. Er erklärt, dass man die beiden Situationen ja nicht gleichsetzen könne, und weist mit einem süffisanten Lächeln darauf hin, dass rechtlich niemand über der Charta der Vereinten Nationen stehe. Das Wort „rechtlich“ betont er auf eine Art und Weise, die klar macht, dass es hier um mehr als nur Rechtsfragen geht: Es geht um die deutsche Staatsräson.

Staatsräson als politischer Joker

Der Begriff der Staatsräson ist in der Tat kein rechtlicher Terminus, sondern vielmehr ein hohler Begriff, mithilfe dessen jedoch rechtliche und politische Entscheidungen begründet werden. Seit der Aufnahme in den Koalitionsvertrag wurde die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärt. Damit wird seit jeher alles Mögliche, egal ob es der Sicherheit Israels zuträglich ist oder nicht, legitimiert – seien es Waffenlieferungen, Kriminalisierung von Solidarität mit Palästina und sogar die Einschränkung von Grundrechten wie Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit. Und auch jetzt, im Angesicht der Haftbefehle, wird damit eine zögerliche Haltung gegenüber dem IStGH begründet. In der entsprechenden Pressemitteilung von Steffen Hebestreit heißt es: „Die Bundesregierung war an der Ausarbeitung des IStGH-Statuts beteiligt und ist einer der größten Unterstützer des IStGH. Diese Haltung ist auch Ergebnis der deutschen Geschichte. Gleichzeitig ist Konsequenz der deutschen Geschichte, dass uns einzigartige Beziehungen und eine große Verantwortung mit Israel verbinden.“ Was das konkret bedeutet, bleibt offen. Es scheint jedoch vor allem eine Taktik zu sein, Zeit zu gewinnen – möglicherweise bis eine neue Regierung amtiert.

Das Bröckeln der westlichen Hegemonie

Die zögerliche Haltung gegenüber den Haftbefehlen verweist jedoch auf eine tiefer liegende Entwicklung: die Angst vor dem Verlust der westlichen Hegemonie im Völkerrecht. Jahrzehntelang konnten sich westliche Staaten darauf verlassen, dass vor internationalen Gerichten vor allem ihre „Feinde“ landeten oder solche, bei denen die politischen Kosten gering blieben. Diese Dynamik ist mit der zunehmenden Multipolarität der Weltordnung ins Wanken geraten. Verfahren wie Südafrika gegen Israel oder Nicaragua gegen Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof zeigen, dass es auch anders geht. Nun steht mit Israel ein „Freund“ gleich mehrfach vor internationalen Gerichten.

Und nicht nur das: Israel ist ein Schlüsselpartner im Nahen Osten. Deutsche Unternehmen profitieren von umfassenden Wirtschaftsbeziehungen mit Israel, die von technologischen Kooperationen bis hin zu gemeinsamen militärischen Projekten reichen. Die deutsche Rüstungsindustrie liefert Waffen und Technologien, die helfen können, den wachsenden Einfluss rivalisierender Mächte wie China oder Russland im Nahen Osten einzudämmen. Gleichzeitig sind es die palästinensischen Gebiete, deren Ressourcen durch die anhaltende Besatzung kontrolliert werden – ein Zustand, der auch westlichen Unternehmen Vorteile verschafft. Die Reaktionen auf die Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant zeigen, wie stark wirtschaftliche und geostrategische Interessen die deutsche Politik bestimmen. Eine Konfrontation mit Israel, insbesondere durch die aktive Umsetzung der Haftbefehle, würde nicht nur zu politischen Spannungen führen, sondern auch handfeste materielle Einbußen für deutsche Unternehmen und eine Schwächung westlicher Einflusssphären bedeuten. 

Die Verteidigung der „Staatsräson“ ist untrennbar mit der Durchsetzung imperialistischer Interessen verbunden. Der deutsche Imperialismus agiert in einem zunehmend konfliktreichen Spannungsfeld zwischen der Durchsetzung eigener globaler Machtansprüche und den normativen Vorgaben des Völkerrechts. Jahrzehntelang war das Völkerrecht ein zentraler Hebel, die westliche Hegemonie nicht nur zu legitimieren, sondern systematisch zu zementieren. Heute erweist es sich jedoch zunehmend als Störfaktor, da nun auch der globale Süden dieses Instrument immer offensiver für eigene Interessen und die Infragestellung westlicher Vorherrschaft in Anspruch nimmt. Dies verschärft die inneren Widersprüche des Imperialismus selbst und fordert die geopolitische Dominanz des Westens in ihrer Grundstruktur heraus.

Lara studiert im Master Internationale Strafjustiz in Marburg.