
19 Juni Grenzen für das Wachstum
Um das Wirtschaftswachstum zu steigern, müssten sich die Arbeiter*innen mehr am Riemen reißen, so der Tenor der Bosse. Dabei verschweigen sie jedoch die Ursachen der momentanen Wirtschaftskrise.
Beim Blick in die Zeitung könnte man denken, dass die Uhr um 20 Jahre zurückgedreht wurde. Genau das denken Ökonom*innen beim Blick auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das zum ersten Mal seit Anfang der 2000er zwei Jahre in Folge geschrumpft ist. Die damals regierende rotgrüne Koalition reagierte mit einem einschneidenden Sozialabbau. Einige der Maßnahmen wurden zwar später abgeschwächt, aber nie ganz zurückgenommen. Ein ähnlicher Kahlschlag ist jetzt wieder beabsichtigt, so wie sich die Kapitalfraktionen mit Einschnitten zu überbieten versuchen. Diese gehen jedoch an den Ursachen des jetzigen Tiefs vorbei.
Um diese zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Zeit nach der Wiedervereinigung und vor der Agenda 2010. Berauscht vom Sieg im Kalten Krieg machten sich westliche Unternehmen auf, die neuen Märkte zu erschließen und in eine neoliberale Weltordnung unter US-amerikanischer Führung zu integrieren. Die deutsche Wirtschaft hat enorm davon profitiert. Sie konnte ihre Produkte, in alle Welt exportieren und wurde damit weniger abhängig von der Nachfrage im Westen. Dazu hat sie mit dem Verweis auf geringere Lohnkosten anderswo, zuhause einen gigantischen Niedriglohnsektor geschaffen, der die soziale Ungleichheit massiv verschärfte.
EU verliert den Anschluss
Ein anderer Profiteur ist China. In den letzten 20 Jahren hat sich dessen BIP verzehnfacht. 2010 ist die Volksrepublik zur größten Volkswirtschaft hinter den USA aufgestiegen, die sich dadurch bedroht sehen. Deswegen betreiben beide Länder eine aggressive Standortpolitik um wichtige Industrien an sich zu binden. Ein Beispiel dafür ist Trumps Zollpoltik, die Einfuhren von exportstarken Ländern verteuert und Produktionsstätten in die USA verlegen soll. Das ist eine Antwort der USA, wie sie eine höhere Nachfrage nach ihren Produkten erzwingen will. China hält dagegen. Die EU droht zerrieben zu werden, hängt sie doch ohnehin stark hinterher: Laut dem ehemaligen italienischen Premierminister Mario Draghi verliert die EU hierbei durch den Abbau des Freihandels, gestiegene Energiepreise sowie geringe Investitionen den Anschluss. Mittlerweile müsste man rund 750 Milliarden Euro investieren, um den Rückgang wieder aufzuholen.
Sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Krise haben sich in den letzten fünf Jahren verschärft: Die Coronapandemie hat nicht nur die Produktion behindert, sondern auch Lieferketten gestört. Als sie sich entspannte, eskalierte 2022 der Krieg in der Ukraine. Die darauffolgende Sanktionierung der billigen russischen Energie machten sich Konzerne zunutze, um die Preise dauerhaft anzuheben.
Unterdessen zeigen sich immer deutlicher die selbstzerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus: Während Waldbrände und Sturmfluten zunehmen, wurde bereits 2024 die 1,5-Grad-Grenze überschritten. Die bevorstehenden Fluchtbewegungen und Rohstoffknappheit werden wohl zu einem härteren Umgang der Regierungen mit den Arbeiter*innen führen, sei es in der Werkhalle oder an der Front.
Wachsen auf den Rücken der Arbeiter*innen
Dabei haben die Folgen der Coronapandemie und die seit 2022 betriebenen Kriegspolitik der Reallohnentwicklung schon genug zugesetzt. Seit zwei Jahren steigen die Löhne zwar wieder leicht, jedoch ohne dabei die Verluste der vorigen Krisenjahre kompensieren zu können. Der Zusammenhang zwischen verringertem Konsumniveau und staatlicher Kürzungspolitik führt zu einem noch geringeren Lebensstandard. Das dient der Prekarisierung und Disziplinierung der Bevölkerung. So wundert es kaum, dass die Herrschenden immer deutlicher über Repressionen für die Arbeiter*innen reden: Einschränkung des Streikrechts, Abschaffung der telefonischen Krankschreibung sowie einiger Feiertage und die Aushebelung von Lieferkettengesetzen. Der stattfindende autoritär-militaristische Umbau der Gesellschaft hat die Mobilisierung der breiten Bevölkerung für deutsche Kapitalinteressen zum Ziel. Sie wird als gehorsames Humankapital und Kanonenfutter gebraucht.
Weder die Beseitigung von Regulierungen noch eine Umverteilung aus der öffentlichen Hand in die Industrie werden diese Krise lösen. Denn wie schon vor 20 Jahren wird das Wachstum mit einer Prekarisierung weiter Bevölkerungsteile und unverschämter Ausbeutung anderer Länder sowie der Natur erkauft, was den Aufstieg der AfD und die neue Blockkonfrontation herbeigeführt hat. Deshalb müssen wir der Wachstums- und Konkurrenzlogik deutlich widersprechen, um Verarmung und Militarisierung entgegenzutreten. Wir müssen für eine Demokratisierung der Wirtschaft und eine damit einhergehende Stärkung von Arbeiter*innenrechten kämpfen. Arbeitskämpfe dürfen sich nicht auf Tarifpolitik verengen, sondern müssen eine grundlegend andere Welt zum Ziel haben: Für eine Gemeinwohlorientierung, die Rücksicht auf Natur, Tier und Mensch nimmt und sich der internationalen Solidarität verschreibt. Denn wenn wir uns jetzt nicht wehren, müssen wir uns in 20 Jahren mit schlimmeren Angriffen befassen.
Philipp (26) studiert in Bremen Soziologie und Kommunikations- und Medienwissenschaft. Seine Antwort auf die Krise lautet Sozialismus.