03 Mrz Von Kulturkreisen, Rassismus und einem Europa des ersten Weltkriegs
Der Krieg um die Ukraine lässt Verwunderung aufkommen. Polen und Ungarn auf einmal proeuropäisch? Die EU nimmt ohne Probleme hunderttausende Geflüchtete auf? Deutschland will die Bundeswehr nun kampffähig machen, weil wieder Krieg in Europa ist? All das sind naive Fragen, die letztlich enthüllen, wie viel Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Unfähigkeit zur friedlichen Konfliktlösung gesellschaftlich und politisch vorhanden ist.
„Die blauäugigen Blonden gehören zu uns“
Dass es scheinbar einen Unterschied macht, ob man aus Syrien oder der Ukraine flieht, wurde zuerst am Kommentar des CBS-Journalisten Charlie D’Agata sichtbar. Die Ukraine sei laut ihm „zivilisiert“, anders als der Irak oder Afghanistan. Emran Feroz hat mehrere Beispiele zusammengetragen und auch in der Erklärung der THE ARAB AND MIDDLE EASTERN JOURNALISTS ASSOCIATION (AMEJA) finden sich erschreckende Beispiele. Dass die Äußerung des ukrainischen Staatsanwalts David Sakvarelidze, es würden nun Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen sterben, unhinterfragt angenommen wurde, stellt ein deutliches Beispiel einer latent vorhandenen rassistischen Überzeugungsstruktur dar. Eine Überzeugungsstruktur, die jüngst wegen NSU 2.0-Prozess und im Gedenken an die Opfer von Hanau thematisiert wurde. Anders, als es zunächst scheinen mag, geht es hier nicht nur um das Aussehen, sondern um die Phantasie eines „westlichen Kulturkreises“ oder eines „Europas“ im Sinne der Vorweltkriegsordnungen.
Der westliche Kulturkreis
Eine Einteilung zwischen guten und schlechten Flüchtlingen basiert jedoch weniger auf einem konkreten visuellen Bild, sondern auf einer spezifischen Weltanschauung. Diese kommt in den Diskussionen der bürgerlichen Öffentlichkeit in den deutschen Medien zutage. Gabor Steingart und Frank Plasberg haben kein Problem damit, auf ein Konzept des Faschismusvordenkers Oswald Spengler, also die „Kulturkreise“ oder noch besser: den „westlichen Kulturkreis“, zurückzugreifen. Da Menschen polnischer und ukrainischer Herkunft schon länger in Berlin beheimatet wären, gehörten sie doch dazu. Oswald Spengler, der mit seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“ zu einem der Wortgeber der Faschisten nach dem zweiten Weltkrieg gehörte, vertrat die Auffassung, dass verschiedene Kulturen sowohl raumzeitlich klar umgrenzt, als auch jeweils nur für die Person verständlich seien, die in ihr aufgewachsen sei. Die Berührung von Kulturkreisen führte laut Spengler fast immer zu Krieg – Pseudomorphose nennt er die Ausbreitung einer Kultur, um eine andere zu verdrängen. In diesem Verständnis ist ein „westlicher Kulturkreis“ klar umgrenzt und ständig, wie wir es seit 2015 immer wieder zu hören bekommen, von Geflüchteten bedroht, weil sie eben nicht aus diesem kommen.
Der „westliche Kulturkreis“ wird auch rasch eingegrenzt: Er beschränkt sich auf Christ*innen. Dass in unserer Mitte längst Muslim*innen leben, gehört nicht zu diesem Narrativ. Auch der jüdische Anteil der Bevölkerung und deren Teilhabe am „christlich-jüdischen Abendland“ wird systematisch ausgeblendet. Die zuvor genannte Einteilung in zivilisierte und unzivilisierte Welt, geht mit dieser Weltanschauung einher und verdeutlicht, inwiefern vor allem nicht-eurasische Menschen als „ungebildetet“ abgewertet werden.
Krieg für das Vaterland
Emran Feroz beweist in seinem Text bei uebermedien.de einen wunderbaren Scharfsinn, wenn er betont, dass Ex-NATO-General Hans-Lothar Domröse die Ukrainer lobt, die in ihrem Land bleiben und dieses verteidigen. Hier mischen sich Militarismus, Nationalismus und Rassismus. „Europäische“ Männer sind ehrenhaft und ziehen in den Krieg, während People of Color aus Nordafrika oder dem arabischem Raum feige sind und nur in unser Sozialsystem einwandern wollen. Letzteres sagt Domröse nicht explizit, wir können es uns aber denken. Vergessen wird dabei, dass in der Ukraine ein enormer Druck auf „wehrfähige Männer“ im Alter von 18-60 ausgeübt wird. Gewalt ist, zum Glück, nicht jederMANNs Sache, wie Berichte zeigen. Verteidigt wird nicht irgendetwas, sondern „die Heimat“.
Die hier zitierte Hart aber Fair-Diskussionsrunde passt zur aktuellen medialen Darstellung, laut derer ein Kriegseinsatz mit Waffengewalt das einzige sei, wie der Konflikt noch zu lösen sei. Dabei wird Russland, oder genauer genommen Putin, Binnenrationale Motive abgesprochen. Die Analyse bleibt, wie man bei Anne Will vom Sonntag, 27. Februar, sehen kann, auf der Ebene eines irrationalen Irren stehen. Ausgeblendet wird dabei ebenfalls, dass die internationale Gemeinschaft bisher auf ökonomischer Ebene die aggressivste Handelspolitik seit dem zweiten Weltkrieg fährt. Kanonen sind also nicht alles.
Waffen müssen her
Eine Wideraufrüstung der Bundeswehr mit einem Sonderetat steht nun an. Mit 100 Mrd., im Verhältnis zu wenigen Mio. € für humanitäre Hilfe, ist der Fokus der Bundesregierung klar gesetzt. Dabei wird deutlich, dass ein Großteil der neuerdings benötigten Waffen oder Ausrüstungsgegenstände nicht zeitnah beschafft werden können – denn sie müssen erst produziert werden. Dass parallel nun die Aktie von Rheinmetall beginnt zu steigen, mag also nicht verwundern. Man fühlt sich dabei unweigerlich an die Burgfriedenspolitik der SPD von 1914 erinnert, die dem damaligen Kriegseinsatz zustimmte, um den sozialen Frieden zu waren. Beunruhigen muss dabei wirklich die dargestellte Doppelmoral, die nicht von rechten Parteien, sondern aus der sogenannten „liberalen Mitte“ kommt.
Es mag eine humorvolle Wendung der Tagespolitik sein, dass diese hohe Verschuldung für Aufrüstung von einem Finanzminister der FDP mitverantwortet und getragen wird, obgleich Lindners Redeweise von „Friedensdividenden“ auch erahnen lässt, das vielleicht an anderen Haushaltsposten (z.B. Renten) gespart werden könnte. Kaum vorzustellen, was mit all diesem Geld angestellt werden könnte, würde man es nutzen, um allen geflüchteten Menschen in Richtung Europa zu helfen. Vermutlich könnten man ihnen und gleichzeitig allen vom Harz IV-System Gebeutelten ein paar ruhige Monate verschaffen.
Ultramodernismus als andere Seite des Rassismus
Für die ein oder andere mag die Sonntagssondersitzung des Parlaments aus dem nichts gekommen sein; wer jedoch die Münchner Sicherheitskonferenz verfolgte, die nur kurz vorher stattfand, wird wiederkehrende Motive erkennen. Der Protagonist hier heißt Olaf Scholz, der die andere Seite einer politischen Erzählung aus den 1910er Jahren vertritt. Für Scholz sind Traditionen und Geschichte nicht relevant, es zählen nur die gegenwärtigen nationalen Grenzen. So sagte Scholz wörtlich, dass man, wenn man in die Geschichtsbücher schaue, Gründe für hunderte Jahre Krieg habe. „Daher müssen wir die Grenzen wie sie sind akzeptieren.“. Eine solche Haltung, die als ultramodernistisch bezeichnet werden kann, setzt an der Idee progressiver Modernisten aus dem beginnenden 20. Jahrhundert an. Die Idee: Indem wir das „traditionelle“ über Bord werfen, erhalten wir Handlungsspielraum. Alles soll neu gemacht werden, von Grund auf.
So funktioniert Gesellschaft aber nicht. Geschichte und ihre Folgen wirken nach – und vermutlich nur noch radikaler, wenn man ihrer nicht gedenkt, sondern sie „unbedacht“ lassen möchte. Ignoriert wird insbesondere dabei, dass „Europa“ vor hundert oder zweihundert Jahren anders Konstituiert war, es also kein, nicht historisches Argument gibt, was Scholz Behauptung „Die Grenzen müssen jetzt so bleiben“ stützen würde.
Aus der Geschichte lernen
Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland, die radikale Vielfalt der Gesellschaft ist seit Jahrzehnten Realität. Menschen mit Migrationsgeschichte und ihre Kinder werden allerdings immer noch strukturell benachteiligt. Dies hat nicht nur Einfluss auf ihre jeweiligen Geschichten, sondern auch ihre gegenwärtigen Lebensrealitäten sind davon betroffen. Sie werden Immernoch schlechter benotet, wenn sie keinen deutschen Namen tragen, auf der Straße tätig angegangen oder von überzeugten Neofaschist*innen umgebracht. Sog. Gastarbeiter*innen hatten lange nicht dieselben rechte wie ihre Kolleg*Innen. Viele Migrant*innen dürfen noch immer nicht an Bundes- und Landtagswahlen teilnehmen. Menschen, häufig Frauen, arbeiten schwarz, um unser marodes Pflegesystem nicht zum vollständigen Zusammenbruch zu bringen. Es sind genau jene Frauen aus Osteuropa, die nun von ihren Männern gewaltsam getrennt werden. kulturell sollten wir doch endlich gelernt haben, dass die Rede von einem „westlichen Kulturkreis“ Eurozentrismus, also auch die Verbrechen des Kolonialismus, einschließt.
Die gegenwärtige Debatte ist ein Zurück zu einem Diskussionsstand aus den Zwanzigern des vorherigen Jahrhunderts. Ökonomisch nutzt sie der Waffenlobby. Ob sie das Leid für die Menschen in der Ukraine wirklich verringern kann, ist zu bezweifeln. Für das liberale Bürgertum, das sich stets weltoffen zeigt, macht es auf einmal einen Unterschied, ob man aus der Ukraine oder Afghanistan floh. Die Regel scheint zu sein, so könnte man zynisch enden, dass nur aus Ländern geflohen werden darf, deren Zerstörung eben nicht die NATO oder ihre Bündnispartner zu verantworten haben. Die herrschende Klasse illustriert also wieder auf haarsträubende Weise, wie Rassifizierung und Klassenförmigkeit dazu genutzt wird, zwischen „Terroristen und Christen“ zu unterscheiden.
Dieser Text ist unter anderem aus den Gesprächen mit einer Kommiliton*in entstanden, die sich zwischen Frankfurt und Istanbul wie selbstverständlich bewegt. Das ist die Realität, jenseits eines Europas der Habsburger Monarchie. Ich will daher auch nicht zynisch enden. Wer jetzt also für den Frieden mobilisieren möchte – und das ist dringend notwendig – der kann eigentlich auf einen Großteil der Bevölkerung hoffen. Ein paar alten, weißen Männern steht eine transkulturell gebildete Jugend gegenüber, die keine Angst hat, eine Grenze einfach mal Grenze sein zu lassen.