Die Wiederkehr der Klassen: »Die prinzipielle Gegenüberstellung von Identitäts- und Klassenfragen ist Unsinn«

Die Wiederkehr der Klassen: »Die prinzipielle Gegenüberstellung von Identitäts- und Klassenfragen ist Unsinn«

In den letzten Jahren wird wieder von Klassen geredet. Um die Verschränkung von Klassenverhältnissen mit anderen Ungleichheitsverhältnissen produktiv zu verstehen, kann die breite linke Literatur zur Klassenfrage helfen.

John Lütten, du hast mit Kim Lucht und Jakob Graf den Sammelband Die Wiederkehr der Klassen. Theorien, Analysen, Kontroversen herausgegeben. Was will der Sammelband sein?

Der Band ist ein Literaturbericht. Das heißt, es geht nicht in erster Linie darum, eigene Thesen oder Analysen zu entwickeln. Das passiert zwar teils auch, aber die Beiträge sollen vor allem einen Überblick über wichtige Literatur und den Stand der Debatte zum Zusammenhang von Klassen- und anderen Ungleichheitsverhältnissen, die heute zentral diskutiert werden, geben. Es gibt daher Kapitel unter anderem zu Klassen- und Geschlechterverhältnissen, zu Klasse und Rassismus oder zum ökologischen Konflikt als Klassenfrage.

Und warum lohnt sich ein Blick auch für politisch Aktive und Interessierte, über die Sozialwissenschaften hinaus?

Als Literaturbericht ist der Sammelband zwar schon eine akademische Angelegenheit – sowohl der Form nach und was die Sprache angeht, als auch inhaltlich, weil es eben viel um Theorie geht. Aber die Frage, wie man das Verhältnis von Klassen- und anderen sozialen Konfliktverhältnissen verstehen soll, ist ja politisch relevant: Wer eine klassenpolitische Antwort auf unterdrückerische Geschlechterverhältnisse finden will, braucht eine Vorstellung, wie Klassen- und Geschlechterfragen zusammenhängen. Hans Rackwitz beispielsweise stellt in seinem Kapitel auch explizite Überlegungen zu ökosozialistischer Klassenpolitik an. Ich hoffe also, dass der Band politisch Aktiven nützliche Hinweise geben kann.

Wie kam es zu dem Sammelband und was war der Hintergrund?

Den Band hat ein Arbeitskreis von Studierenden und jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern namens »Projekt Klassenanalyse Jena« (PKJ) am Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Uni Jena erarbeitet, den Klaus Dörre im Jahr 2018 initiiert und angeleitet hat. Wir hatten uns damals zusammengefunden, um die Diskussion über Klassen und Klassenpolitik kollektiv auszuwerten und ältere wie neue Beiträge zu Klassentheorie zu besprechen.

Warum denn ein Literaturbericht?

Unser Ausgangspunkt war unter anderem die Feststellung, dass es zu vielen Fragen, die heute wieder diskutiert werden, eigentlich schon einiges an Forschung und Theorie gegeben hat – die aber kaum einbezogen wird. Es gibt einen breiten Fundus wichtiger Literatur, der heute neu gelesen werden müsste. Zu dieser Relektüre soll unser Band einen Beitrag leisten, auch wenn klar ist, dass nicht alle Beiträge alles einbeziehen können. Außerdem hat Klaus Dörre eigene klassenanalytische Thesen entwickelt, die wir im Arbeitskreis diskutiert haben. Der Sammelband ist ein Ergebnis unserer Arbeit, die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die Publikation finanziert. Ein zweiter Band, den Klaus Dörre allein verfasst hat, soll dieses Jahr auch noch erscheinen.

In den letzten Jahren hatte der Klassenbegriff wieder Konjunktur – auch ihr stellt dies in eurem Sammelband fest. Warum ist das so?

Anfangs, also ab etwa 2015, ging es in der Diskussion ja vor allem um Klassenpolitik im Zusammenhang mit dem Erstarken rechter Formationen wie der AfD oder Pegida, die Teile der Lohnabhängigen mobilisieren konnten. Das war eine Art »Weckruf« für die Linke und hat gezeigt, dass sie die soziale und Klassenfrage, und das schließt ihre politische Repräsentation mit ein, nicht der Rechten überlassen darf. So kam dann unter anderem die Diskussion über eine sogenannte »Neue Klassenpolitik« zustande.

War das der einzige Auslöser?

Nein, meines Erachtens liegen die Gründe für die neue Konjunktur noch tiefer. Der Klassenbegriff kehrt zurück, weil die Entwicklungsdynamik der Bundesrepublik neu auf den Begriff gebracht werden muss. Seit dem Umbau des Arbeitsmarktes im Zuge der »Agenda 2010«-Reformen ist der Niedriglohnsektor zum Beispiel stark gewachsen, unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse haben zugenommen. Gleichzeitig zeigen Statistiken, dass sich die Polarisierung zwischen Arm und Reich verschärft, die Macht der Kapital- und Vermögensbesitzenden ist gestiegen. Das sind historisch neuere Entwicklungen, die erklärt werden müssen.

Wie sieht das im Alltagsleben aus?

Anders als früher gibt es mittlerweile ein relativ stetiges Segment von Menschen, die dauerhaft unsicher leben, auf Hartz IV angewiesen sind oder kaum noch Aufstiegsperspektiven haben. Parallel steigen die Preise und Mieten. Immer mehr Menschen können darum von ihrer Arbeit kaum leben oder ihre Situation wirklich verbessern – das merken sie im Alltag und es prägt das Bewusstsein. Auch das Sicherheits- und Aufstiegsversprechen, mit dem große Teile unserer Elterngeneration groß geworden sind, gilt heute für viele nicht mehr. Diese Erfahrung kann mittlerweile auch in der breiten Öffentlichkeit nicht mehr ignoriert werden, sie bedarf der Deutung und Verarbeitung.

Welche Rolle spielt dabei die Theorie?

Für diese Deutung und Verarbeitung braucht es neue Begrifflichkeiten, auch weil früher prägende Leitbegriffe wie »Individualisierung«, »Pluralisierung« oder die Rede vom »Ende der Klassengesellschaft«, die in den 1980er und 1990er Jahren zur Beschreibung der Gesellschaft benutzt wurden und die mit der Behauptung verbunden wurden, dass Klassenverhältnisse keine Erklärungskraft für die Entwicklung der Gesellschaft mehr hätten, heute ganz offenkundig nicht mehr tragen. Ich denke, das ist zumindest ein grundlegender Faktor für das neue Interesse am Klassenbegriff.

Neu ist dabei aber übrigens nicht, dass Teile der Sozialwissenschaften oder Linke wieder über Klassen reden, sondern eher, dass Begriffe wie »Kapitalismus«, »Ausbeutung« oder eben »Klasse« auch in Teilen der breiten Öffentlichkeit und Medien wieder auf Resonanz stoßen. Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung, die der marxistischen Folklore ja bekanntlich eher unverdächtig ist, veröffentlicht mittlerweile Jugendhefte zum Thema »Klasse«. Das passiert natürlich nur bedingt in kritischer Absicht und inhaltlich teils völlig entleert. Trotzdem drückt das aber eine gesellschaftliche Veränderung aus.

Welche neuen Ansätze in der Diskussion um Klasse, bzw. Klassenpolitik, gibt es und wo sind ihre Fallstricke?

Es gibt viel Neues und auch einige Fallstricke. Das liegt allgemein daran, dass in der Debatte sehr verschiedene Akteure und Strömungen zusammenkommen. Mit dem Begriff »Klasse« werden daher unterschiedliche Dinge bezeichnet, und es wird an unterschiedlichen Ebenen angesetzt. Insofern ist klar, dass sowohl die Zugänge zur Klassendiskussion als auch das Interesse an Klassenpolitik unterschiedlich gelagert sind und verschiedene Aspekte von Klassenverhältnissen – ökonomische, politische, kulturelle – betont werden. Diese Breite ist eigentlich begrüßenswert. Aber damit etwas Sinnvolles herauskommt, müssen die verschiedenen Ansatzpunkte produktiv ins Verhältnis gesetzt werden, nicht nur unvermittelt nebeneinander stehen. Eine umfassende Klassenanalyse heutiger kapitalistischer Gesellschaften, die das leistet, fehlt jedenfalls nach wie vor.

Was ist dabei inhaltlich neu?

Zum Beispiel, dass Fragen nach Kultur und Lebensweisen heute eine größere Rolle in der Diskussion spielen als früher. Die Klassenfrage wird stellenweise primär als Kulturkonflikt gefasst. Das gilt zum Beispiel für Ansätze wie den des Soziologen Andreas Reckwitz, der Klassen in erster Linie als »Kulturklassen« und – sehr grob vereinfacht – entlang kultureller Orientierungsmuster unterscheidet. Und selbstverständlich ist diese kulturelle Dimension von Klassenverhältnissen wichtig. Ich meine aber, dass bei Reckwitz tendenziell unklar bleibt, wodurch sich die Klassenstruktur dann zum Beispiel verändert, worin der Klassenkonflikt eigentlich genau besteht und was die Klassen überhaupt zu Klassen macht, weil mir die Erdung des Klassenbegriffs in der sozioökonomischen Struktur der Gesellschaft ungeklärt erscheint.

Wo steht in dem Zusammenhang die »Klassismus«-Diskussion?

Aus meiner Sicht ist das dort ähnlich. In dieser Diskussion werden Ausschlusserfahrungen meist in Form autobiographischer Berichte und persönlicher Erfahrung behandelt. Dass über diese Erfahrungen, die ja teilweise sehr schambehaftet sind, offensiver und öffentlich geredet wird – zuletzt etwa unter dem Hashtag »#IchBinArmutsbetroffen« in sozialen Medien –, halte ich für lange überfällig und sehr wichtig. Es sind ja oft diese Abwertungserfahrungen, über die Klassenverhältnisse konkret und schmerzvoll erlebt werden – zumal es in der Bundesrepublik eine lange und unrühmliche Tradition gibt, die Unterklassen quasi wegzudefinieren und bis ins Begriffliche hinein zu verleugnen. Allerdings sehe ich in der »Klassismus«-Debatte ebenfalls eine gewisse Tendenz zur Kulturalisierung des Klassenbegriffs, die die Produktions- und Strukturdimension von Klassenverhältnissen mitunter vernachlässigt. Das führt meines Erachtens dazu, dass die Klassenfrage dann manchmal eher als Anerkennungs- oder Repräsentationsfrage erscheint. Nicht falsch verstehen: Anerkennung, Sichtbarkeit und Repräsentation sind politisch wichtig. Die Frage ist nur, ob sie allein ausreichen, um Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse nicht nur ins öffentliche Bewusstsein zu bringen – sondern auch abschaffen zu können.

Doch würdest du von kulturellen Aspekten auch nicht ganz abkehren wollen.

Genau. Das schlechte Gegenteil zur Kulturalisierung gibt es ja auch, nämlich die ökonomistische Verengung von Klassenverhältnissen allein auf Fragen von Lohn, Miete, Sozialpolitik. Die sind klassenpolitisch natürlich zentral. Eine Beschränkung auf sie halte ich jedoch ebenfalls für einen Fallstrick: Klassenkonflikte umfassen mehr als nur den Kampf ums soziale Mehrprodukt, und eine Reduktion auf reine Verteilungsfragen nimmt dem Klassenbegriff auch politische Sprengkraft. Bereits Marx und Engels haben immer auch politische, kulturelle und »ideologische« Dimensionen von Klassenverhältnissen einbezogen. Klassenkämpfe umfassen auch Hegemonie, Kultur, Repräsentation und intellektuelle Deutungsfragen.

Welche Rolle spielte in dem Sammelband der viel diskutierte Begriff der Identitätspolitik?

Das Stichwort »Identitätspolitik« spielte für unseren Arbeitskreis nur insofern eine Rolle, als es heute ja die fragwürdige Tendenz gibt, Fragen etwa nach Geschlechterverhältnissen oder Rassismus nur noch darunter zu verhandeln. Wir waren uns schnell einig, dass die prinzipielle Gegenüberstellung von Identitäts- und Klassenfragen Unsinn ist und auch nichts klärt. Ich halte es für zielführender, sich theoretisch und empirisch anzusehen, wie Klassen- und andere Ungleichheitsverhältnisse konkret zusammenhängen – um dann zu diskutieren, wie man diesen Zusammenhang praktisch angehen muss.

Und warum tut sich die politische Linke so schwer, diese Unterdrückungsverhältnisse mit Klassenpolitik zusammenzudenken?

Hier kann ich nur für mich sprechen – unser Arbeitskreis war immer ein heterogenes Projekt. Eigentlich, meine ich, verhandelt die Auseinandersetzung um Klassen- und Identitätspolitik zentrale Fragen nach dem Zusammenhang von Klassen- und anderen Ungleichheitsverhältnissen und deren Politisierung. Dass sie oft so unproduktiv und chaotisch geführt wird, liegt meines Erachtens auch daran, dass viel durcheinandergeschmissen wird.

Wie zum Beispiel?

Zum einen herrscht keine Klarheit, was man mit Begriffen wie »Identität« oder »Identitäts-« und »Klassenpolitik« eigentlich meint: Geht es beispielsweise um das, was das US-amerikanische Combahee River Collective als »Identitätspolitik« geprägt hat, oder ist der Begriff nur eine Chiffre für Anerkennungs- und Repräsentationsfragen aller Art? Zum anderen müssten zwei Ebenen klarer unterschieden werden: Erstens die analytische Frage, wie zum Beispiel Geschlechter- oder rassistische Unterdrückungsverhältnisse mit Klassenverhältnissen zusammenhängen, und zweitens die Frage nach dem Modus und den konkreten Formen ihrer Politisierung. Beides wird aber oft vermengt.

Wozu führt das?

Das führt einerseits dazu, dass manche das Kind mit dem Bade ausschütten und etwa den Kampf gegen Rassismus für nachrangig erklären, weil ihnen die identitätspolitische Form missfällt, wie er geführt wird – anstatt hier etwa einer liberalen identitätspolitischen Agenda eine dezidiert sozialistische und klassenpolitische entgegenzusetzen. Oder es führt andererseits dazu, dass hinter der Kritik an Identitäts- und Repräsentationspolitiken sofort die prinzipielle Geringschätzung antirassistischer oder feministischer Anliegen vermutet wird – so als würde der Hinweis auf die zentrale Bedeutung von Klassenverhältnissen automatisch bedeuten, andere Unterdrückungsverhältnisse zu »Nebenwidersprüchen« zu erklären. Ich denke, wenn hier klarer unterschieden würde, könnte das zumindest zur Versachlichung der Diskussion beitragen.

Lässt sich also diese Debatte mit einer begrifflichen und analytischen Klärung lösen?

Nein, trotzdem gibt es in der Debatte politische Widersprüche, die man eben nicht einebnen oder wegdefinieren kann. Es ist meines Erachtens zu einfach, bloß zu sagen, dass Klassen- und Identitätspolitik ja kein Widerspruch seien oder man sie »zusammendenken« müsse. Das klingt gut, ist aber erstens unkonkret und löst zweitens reale Probleme nicht. Denn genauso wie es Ansätze einer tendenziell konservativen Klassenpolitik gibt, die die Klassenfrage allein auf Verteilungspolitik verengen und Emanzipationskämpfe für nachrangig erklären, gibt es auch Formen liberaler Identitäts- und Anerkennungspolitik, die sich nicht mit einer Klassenpolitik verbinden lassen, die sich an Interessen orientiert, die verallgemeinert werden können.

Worin besteht dieser Widerspruch aber letzten Endes?

Es geht da meines Erachtens nicht nur darum, wie man Klassen- und Identitätsfragen gewichtet, sondern auch um die grundlegende Zielsetzung linker Politik. Es ist also auch ein Konflikt zwischen verschiedenen Vorstellungen von linker Politik mit unterschiedlichen strategischen Implikationen, der ja auch innerhalb der feministischen oder antirassistischen Bewegungen zu teils heftigen Flügelstreits führt.

Ich meine aber, dass sich diese Widersprüche aufheben lassen. In der Geschichte linker Bewegungen sowie der kommunistischen und Arbeiterbewegung gibt es viele Beispiele, wie der Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung auf Grundlage einer sozialistischen und zugleich emanzipativen Agenda geführt werden kann. Die kann und soll man freilich nicht einfach imitieren. Aber vielleicht hilft es ja, sich dort zumindest inspirieren zu lassen, auch um sich von manchen Zerrbildern in der heutigen Diskussion zu lösen.

Das Interview führte Lukas Geisler. Im nächsten Teil des Interviews geht es um ökologische Dimensionen der Klassenfrage.

»Die Wiederkehr der Klassen. Theorien, Analysen, Kontroversen« ist bei Campus erschienen. Zum kostenlosen Download geht es hier.