13 Jun Die Wiederkehr der Klassen: »Wer von drei Jobs leben muss, hat kaum Zeit, sich politisch zu organisieren«
Minijobs, Leiharbeit, und befristete Jobs bedeuten, dass viele den »normalen« Lebensstandard nicht mehr erreichen. Davon sind Frauen insbesondere betroffen. Dieser Klassenkampf von oben macht es nicht leicht – doch können sich die Beschäftigten wehren.
John Lütten hat mit Kim Lucht und Jakob Graf den Sammelband Die Wiederkehr der Klassen. Theorien, Analysen, Kontroversen herausgegeben. Im ersten Teil des Interviews sprach er mit critica über die Wiederkehr des Klassenbegriffs in der öffentlichen Debatte, und das Verhältnis zwischen ihm und Identitätsfragen, und im zweiten Teil über den Zusammenhang von ökologischen und ökonomischen Fragen.
John Lütten, welche Aktualität hat Klassenpolitik in feministischen Kämpfen?
Sie ist dort meines Erachtens unerlässlich, wie das Kapitel von Kim Lucht, Livia Schubert, Lena Reichardt, Greta Hartmann und Sophie Bose in unserem Sammelband zeigt. Allein schon, weil viele Erscheinungsformen sexistischer Unterdrückung eine Klassendimension haben: Übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen gibt es in prekären Berufsfeldern überdurchschnittlich oft, Femizide oft dort, wo Frauen auch sozial am verwundbarsten sind.
Zudem sind Frauen stärker betroffen von »klassischen« Formen ökonomischer Ungleichheit.
Richtig. Bekanntlich arbeiten Frauen häufiger in schlecht bezahlten oder prekären Jobs – wie unter anderem den Sorge- und Erziehungsdiensten, deren Tarifkampf ja zuletzt auch bei Veranstaltungen zum 8. März thematisiert und unterstützt wurde. Auch von Altersarmut sind Frauen öfter bedroht. Entgegen aller Popularität von liberaler »Diversity« oder kulturindustriellem Pop-Feminismus ist es zudem so, dass es weiterhin maßgeblich Frauen sind, die Haushalts- und Sorgearbeiten und damit die kostenlose Reproduktion der Ware Arbeitskraft für das Kapital übernehmen.
Wo setzt dann ein klassenbewusster Feminismus an?
Allgemein gesagt: An den materiellen Grundlagen von unterdrückerischen Geschlechterverhältnissen und Rollenbildern. Verbunden mit ökonomischer Schlechterstellung, die oftmals die Abhängigkeit vom männlichen Familienernährer zementiert, stellen die eben genannten Faktoren, allen voran die Verpflichtung von Frauen für »kostenlose« Reproduktionsarbeiten für das Kapital, materielle Grundlagen für den Fortbestand entsprechender Rollenmuster dar – woran der liberale Mainstream-Feminismus nichts ändert. Es gibt also viele Gründe, materialistische Ansätze zur Geschlechterfrage neu zu lesen und so etwas wie einen sozialistischen »Feminismus für die 99 Prozent« zu diskutieren, wie ihn beispielsweise die US-Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser vertritt.
Du hast schon die prekäre Arbeit erwähnt. In deinem eigenen Beitrag im Sammelband beschäftigst du dich mit eben dieser Prekarisierung. Was verstehst du darunter?
Ich schließe in meinem Verständnis vor allem an Klaus Dörre an und verstehe darunter grob gesagt die Ausbreitung unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse, die institutionell nicht oder weniger geschützt sind. Für Lohnabhängige bedeutet das, dass der gesellschaftlich als »normal« geltende Standard der Lebensführung nicht oder nur mit größerer Anstrengung gehalten werden kann.
Und das passiert durch die veränderte Form der Arbeit?
Vor allem dadurch. Lohnarbeit nimmt heute stärker als früher Formen an, von denen man nicht dauerhaft leben kann: Minijobs, Teilzeitbeschäftigung, Leiharbeit, Formen der Solo-Selbständigkeit oder befristete Jobs etwa. Die führen nicht nur zu finanziellen Einschränkungen und Planungsunsicherheiten, sondern die Erfahrung von Unsicherheit kann sich auf kurz oder lang auf das ganze Leben und auch die Gesundheit auswirken: Im schlimmsten Fall führt prekäre Arbeit zum Burnout oder anderen Krankheiten. Insgesamt wird Arbeitskraft durch Prekarisierung »rekommodifiziert«, also ihr Charakter einer umkämpften Ware wieder verstärkt im Vergleich mit früheren historischen Phasen des Kapitalismus wie etwa dem stärker regulierten Kapitalismus der Nachkriegsprosperität. Die Prekarisierung unserer Arbeits- und Lebensverhältnisse ist so gesehen also weder Unfall noch Naturgewalt, sondern Klassenpolitik von oben.
Wieso wehren sich aber die Beschäftigten nicht?
Viele tun das! Es ist keineswegs so, dass Prekarität automatisch Lethargie, Vereinzelung oder Rückzug bedeutet. Die kollektive Organisierung von prekär Beschäftigten ist nicht unmöglich, in der Tat allerdings oft schwierig. Abgesehen davon, dass in vielen prekären Berufsfeldern sehr rigoros gegen gewerkschaftliche Interessenvertretung und Betriebsräte vorgegangen wird, hat das auch mit Ressourcen zu tun. Ich kenne das aus meinem eigenen Umfeld: Wer von drei Jobs leben muss, hat kaum Zeit, sich politisch zu organisieren.
Was für Ressourcen sind das?
Prekär Beschäftigte in ihren Jobs haben oft weniger Möglichkeiten, Macht zu entfalten: Leiharbeitskräfte können schnell wieder weggeschickt werden, für Lagerarbeiten im Versandhandel oder einfache Arbeiten in der Fleischindustrie können Chefs oft schnell jemand anders finden. Prekär Beschäftigte sind also tendenziell verwundbarer, weil sie in der betrieblichen Hierarchie weiter unten stehen. Dazu kommen oft Betriebsstrukturen, die zum Beispiel vereinzelnd wirken, etwa bei Fahrradkurieren, die ihre Lieferungen alleine ausfahren. Im Fall der Kurierdienste wissen die Beschäftigten sogar teilweise gar nicht, wer ihr Chef ist, weil es nur eine Telefonnummer oder eine Mailadresse gibt, über die mit dem Unternehmen kommuniziert werden kann. Das erschwert den Widerstand natürlich zusätzlich. Gerade die jüngsten Arbeitskämpfe in diesen Bereichen zeigen jedoch auch: Es ist überhaupt kein Naturgesetz, dass prekäre Lohnabhängige sich nicht organisieren und wehren könnten.
Du arbeitest Ansätze heraus, welche Handlungsspielräume es für Arbeitskämpfe des Prekariats gibt. Was können aktuelle gewerkschaftliche Initiativen, wie im Gesundheitssektor, davon lernen?
Ganz allgemein gesagt, hängt in diesen Fragen viel von der jeweiligen betrieblichen Situation, den allgemeineren Umständen und der konkreten Lage der Beschäftigten ab – und manchmal auch schlichtweg davon, ob die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt zusammenkommen. Insofern lassen sich die Erkenntnisse aus der Gewerkschaftsforschung teils nur bedingt verallgemeinern. Ein Vergleich verschiedener Fälle und Erfahrungen schärft aber den Blick dafür, wo die entscheidenden Punkte liegen können: Es ist zum Beispiel nicht immer die klassische Lohnfrage, die den Leuten am meisten unter den Nägeln brennt, sondern manchmal sind es auch Fragen der Arbeitszeit, der Arbeitsorganisation oder – im sozialen Bereich von Betreuungsverhältnissen besonders wichtig – die Frage von Personalschlüsseln.
Was kann man aber aus den Beispielen gelungener Organisierung lernen?
Zum einen, dass die gewerkschaftliche und politische Strategie manchmal an entscheidenden Stellen erweitert oder über das klassische tarifpolitische »Kerngeschäft« hinausgedacht werden muss. Etwa, indem die betriebliche Ebene um eine starke Öffentlichkeitsarbeit ergänzt wird, die den Anliegen der Beschäftigten Unterstützung verschafft und Druck auf die Unternehmer ausübt – was es im Falle der letzten Pflegestreiks ja auch teilweise gegeben hat.
Oder es braucht neue Wege, um Kolleginnen und Kollegen in Betrieben zu aktivieren. Zum Beispiel, indem man die Organisierung der Belegschaft und die Vorbereitungen der Auseinandersetzung von vornherein kollektiv und demokratisch mit den Aktiven angeht, die Beschäftigten also stärker einbezieht, als das im gewerkschaftlichen Tagesgeschäft üblicherweise der Fall ist.
Das sind aber natürlich sehr allgemeine Hinweise – in jedem Fall zeigen die Analysen von gewerkschaftlicher Organisation in prekären Bereichen, auf wie vielen Ebenen Macht und Gegenmacht eine Rolle spielen und im Sinne der Lohnabhängigen eingesetzt werden können, wenn man es kreativ angeht und einen Hebel findet.
Vielen Dank für das Interview!
Das Interview führte Lukas Geisler.
»Die Wiederkehr der Klassen. Theorien, Analysen, Kontroversen« ist bei Campus erschienen. Zum kostenlosen Download geht es hier.