15 Aug Ein akademisches Proletariat? Rezension zur Streitschrift #IchBinHanna
Die Initiator*innen der Twitter-Kampagne #IchBinHanna, Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon, legten nun eine Streitschrift vor, die bei Suhrkamp erschienen ist. Präzise und polemisch berichten sie von der Prekarisierung des akademischen Mittelbaus. Doch weist das Buch auch eine eklatante Leerstelle auf.
Seit 2007 gilt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, welches große Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und Berufsaussichten für viele junge Wissenschaftler*innen hat. Viele hangeln sich von befristeter Anstellung zu befristeter Anstellung. Das Gesetz bedeutet, um harte Zahlen zu nennen, dass wissenschaftliches Personal in Deutschland maximal sechs Jahre bis zur Promotion und sechs Jahre danach befristet beschäftigt werden darf. Oft sind die einzigen unbefristeten Angestellten in der Wissenschaft Professor*innen. So haben über 94 Prozent der unter 45-Jährigen nur befristete Verträge. Befristung ist also der Normalfall.
Nicht nur die Autor*innen der Streitschrift, auch die Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke sieht angesichts der Akademisierung der Lohnarbeit ein »akademisches Proletariat« entstehen. Akademische Bildung schütze nicht mehr vor unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und sozialem Abstieg, konstatiert sie. Gleichzeitig betont sie die Möglichkeiten einer neuen Klassenpolitik, die die falsche Gegenüberstellung von Akademiker*innen und Arbeiter*innen überwindet. Ein aussichtsreiches Feld des Arbeitskampfes hat sich durch die #IchBinHanna-Kampagne eröffnet.
Wer ist Hanna?
Doch erstmal zu Hanna – Wer ist das eigentlich? Die Autor*innen schreiben, dass sie »alle drei strukturell Hannas« sind. Sie kritisieren das System Wissenschaft nicht aus gesicherten Positionen, sondern sind selbst Betroffene. Hanna ist eine fiktive promovierende Biologin mit einem Dreijahresvertrag. Anhand dieser Figur wollte das Bundesministerium für Bildung und Forschung in einem Video die Anwendung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes erklären. Von 2018 bis 2021 blieb es praktisch unbemerkt auf der Website des Ministeriums.
Die Autor*innen schreiben, dass das Video zum Skandal wurde, weil »es Befristung zur Grundvoraussetzung funktionierender Wissenschaft erklärt«. Im Video heißt es, dass das Gesetz sicherstellt, »dass nicht eine Generation alle Stellen verstopft«. Durch Fluktuation solle »die Innovationskraft« gefördert werden. Dies nahmen die Initiator*innen und nach ihnen andere zum Anlass, um auf ihre Schicksale hinzuweisen. Denn dieses Gesetz kennt der Streitschrift zufolge »Menschen nur als austauschbares Material, das möglichst schnell durch das System Wissenschaft gespült werden muss«. Die Zeichentrickfigur Hanna bekam durch die Twitter-Kampagne tausende reale Gesichter und offenbarte die Situation unzähliger junger Akademiker*innen seit 2007.
Prekäre Wissenschaft in Deutschland
Auf knapp 120 Seiten machen die Autor*innen ihrem Ärger Luft, ohne dabei an analytischer Schärfe zu verlieren. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit einer historischen Perspektive und zeigt dabei auf, dass das Wissenschaftssystem nicht schon immer so war und auch deshalb nicht so bleiben muss. Das zweite Kapitel thematisiert die Gegenwart des akademischen Mittelbaus. Die Autor*innen schließen: »Prämiert werden in diesem System Egoismus und bisweilen unkollegiales Verhalten«. Darüber hinaus würden vielfältige Abhängigkeiten, Machtmissbrauch, Mobbing und Vetternwirtschaft begünstigt.
Anschließend an Oliver Nachtweys These der Abstiegsgesellschaft vergleichen sie die Wissenschaft als abwärtsfahrende Rolltreppe, auf der alle panisch versuchen, nach oben zu laufen und Konkurrent*innen herunterzustoßen. Keine günstigen Bedingungen für eine kritische Wissenschaft, die angesichts der kapitalistischen Vielfachkrisen unbequem sein müsste, anstatt das Immergleiche zu reproduzieren. Die Konkurrenzsituation führe dazu, dass »die wenigen Gewinner*innen eigentlich nichts als Pyrrhussiege einfahren«.
Im dritten Kapitel setzen sie sich mit Reformvorschlägen auseinander, die nicht mit kapitalistischer Konkurrenzlogik brechen und die angesichts gegenwärtiger Herausforderungen der Klimakrise definitiv radikaler ausfallen müssten. Doch angesichts der prekären Arbeitsbedingungen ist beispielsweise die Forderung einer Entfristung von Arbeitsverträgen eben doch ein Fortschritt. Damit Wissenschaft kein »teures Hobby für Menschen mit finanziellem Polster« bleibt, sondern Menschen einen Lebensunterhalt sichert sowie ihnen erlaubt, einen Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation zu leisten.
Eklatante Leerstellen bleiben
Zwar werden die Autor*innen nicht müde zu betonen, dass es nicht nur um die prekär Beschäftigten geht, allerdings bleiben die Auswirkungen für Studierende als Leerstelle zurück. Was heißt es eigentlich für Studierende, wenn Dozierende keine Zeit haben, um für Chancengleichheit zu sorgen? Statistiken zeigen klar, dass Menschen aus Arbeiter*innenhaushalten stark benachteiligt werden. Nur eines von hundert Arbeiter*innenkindern promoviert. Dagegen sind es zehnmal so viele Promovierende aus akademischen Haushalten. Dies bedeutet, dass die familiäre Herkunft eines jungen Menschen und die Bildung seiner Eltern enormen Einfluss auf die Bildungschancen hat. So führt auch die prekäre Situation des akademischen Mittelbaus dazu, dass Ungleichheiten perpetuiert werden.
Und auch allgemeiner gesprochen: Jede*r Studierende*r hat eigene enttäuschende Erfahrungen des neoliberalen Studierens in den zwanzig Jahren seit der Bolognareform gemacht. Über zwei Jahre nach Beginn der Pandemie sind es nicht nur die prekär Beschäftigten, sondern das gesamte Wissenschaftssystem kann in Frage gestellt werden. Weil es momentan eine umfangreiche Berichterstattung gibt und Diskussionen nicht abreißen wollen, wäre jetzt der Moment gekommen, um auch die Studierendenschaft neu zu politisieren.
Diese Brücke schlagen Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon leider nicht. Solidarisch mit der Kampagne #IchBinHanna und dem Arbeitskampf des akademischen Mittelbaus sollten Studierende trotzdem sein. Die Leerstelle im Buch sollte als Aufforderung begriffen werden, denn es bleibt Studierenden selbst überlassen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Es wird Zeit wieder für eine andere, solidarische Universität zu streiten.
Lukas studiert Politische Theorie in Frankfurt a.M. und versucht weder in noch auf einer Bank zu enden. Mehr von ihm gibt es über diesen Link.