Traut euch, fragt nach!

Traut euch, fragt nach!

Warum kritische Nachfragen in Seminaren systemrelevant sind. Ein Kommentar von Benni R.

Kennt Ihr das? Ihr sitzt im Seminar. Plötzlich sagt eine Dozent*in etwas, das euch nicht so einleuchtend vorkommt. Irgendwie macht das keinen Sinn. Ihr wisst nicht, wie man von diesem auf jenes schließt und die vorherigen Aussagen eurer Dozent*in gingen in eine völlig andere Richtung.

Eure Gefühlslage verändert sich. Ihr werdet neugierig, der Sache auf den Grund zu gehen. Ihr ärgert euch vielleicht, weil ihr euren Denkfehler noch nicht gefunden habt. Ihr habt das Bedürfnis, eine Frage zu stellen und dann Angst, dass ihr euch blamiert. Ihr schämt euch, weil die anderen alle so ruhig sind und wissend da sitzen. Dann fühlt ihr euch bedrückt, weil ihr scheinbar dümmer seid, als alle anderen. Diese Gefühle sind normal – aber sie müssen überwunden werden. Warum, kann man heute noch in der Hochschuldenkschrift des SDS von 1961 nachlesen:

„Die kritische Fragestellung der Studenten in der wissenschaftlichen Diskussion (z.B. im Seminar) und die ständige Verpflichtung des Forschers zur Darstellung und Vermittlung von Arbeitsergebnissen, haben eine gewissermaßen auslösende Funktion bei der Erarbeitung von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Durch die Sammlung und Aufbereitung von Faktenmaterial, durch die Neufassung und kritische Prüfung des bisherigen Forschungsstandes kann die Arbeit von Studenten zur unmittelbaren Voraussetzung neuer Forschungserkenntnisse werden.“

(SDS, 1961, I.1, Abs. 10)

Wer im Seminar kritisch nachfragt, stört also nicht, sondern hilft bei der Verdeutlichung, Verfeinerung und Korrektur wissenschaftlicher Erkenntnis. Dankbar ist einem dafür aber niemand so richtig. Das hat mit der Trennung von Forschung und Lehre zu tun.

„An der Ausbildung in der Oberschule oder in der höheren Fachschule, wo bestimmte ausgewählte und  popularisierte Ergebnisse der Wissenschaft vermittelt werden, sind die Schüler deshalb vorwiegend als passive Hörende und Lernende beteiligt, weil sie nicht so weit in die Dinge eindringen können, dass sie wie die    Studierenden es tun sollten, den Entstehungsprozess bestimmter wissenschaftlicher Erkenntnis nachvollziehen und kritisch beurteilen können.“

(SDS, 1961, I.2, Abs. 7)

Ihr fühlt euch gerade wahrscheinlich auch eher wie eine Oberschüler*in. Tatsächlich führt das Lesen von selektiven Sekundärtexten über grundlegende Theorien eurer Disziplin und die Trennung von inhaltlichen und methodischen Kursen genau dazu, dass ihr wie Schüler*innen passiv zuhört und Wissen konsumiert, statt Gedankengänge zu verstehen und zu kritisieren.

Den Zuständen geschuldet

Der SDS hatte hierfür schon vor über 60 Jahren eine Erklärung. Die Produktion von Wissen(schaft) als Ware, die angestrebte Vorbereitung von Studierenden auf den Arbeitsmarkt, der Irrglaube an wertfreie Wissenschaft sowie autoritärer Standesdünkel sind als Gründe für den zunehmenden Charakterwandel der Lehre zu nennen. Erschwerend hinzu kommen die akuten Missstände, mit denen wir alle vertraut sind. Die Überfüllung der Hochschulen, die fortschreitende Anonymität, der Konkurrenzdruck und die Überlastung der Studierenden und Dozierenden schaffen keine gute Atmosphäre für konstruktiven Streit.

Das Bedürfnis, Wissenslücken durch Nachfragen zu schließen, entspricht dem eigenen Bildungsinteresse und dient der Wissenschaft. Wo aber überlastete Dozent*innen Angst vor einer schlechten Evaluation haben, wenn sie sich bei Fehlern ‚ertappen‘ lassen, und wo müde Student*innen durch ein schlecht vorbereitetes Referat stolpern, weil sie doch eigentlich nur diese Leistungspunkte brauchen, sind die Zustände für einen vertrauensvollen Umgang miteinander nicht gegeben.

Doch bringt es herzlich wenig, einfach den Mund zu halten. Die nächste Frage drückt schon bald auf der Stirn und die vorherige ist noch nicht einmal gestellt. Wissenschaft ist nun mal ein offener Prozess. Nur durch kritische Fragen nehmen wir im Studium daran teil und werden zu Wissenschaftler*innen.

„Der Student erreicht sein Ziel, die Ausbildung seiner eigenen geistigen Fähigkeiten, erst in dem Maße, wie er über die individuelle Aneignung hinauswächst zur aktiven Beteiligung an der Entwicklung der Fähigkeiten und Kenntnisse anderer Studenten. In der Form der gegenseitigen wissenschaftlichen Selbsterziehung der Studenten verwirklicht sich wiederum nur eine graduell verschiedene (…) Stufe der Einheit von Forschung und Lehre.“

(SDS, 1961, I.1, Abs. 15)

Den Zuständen zum Trotz

Schlaue Kommentare in sich hineinzunuscheln und sich für das einzige schlaue Schaf in der Herde zu halten, macht dich nicht wirklich schlauer. Und schlechte Referate aus Höflichkeit nicht zu kritisieren, überlässt deine Kommiliton*innen ihren eigenen Irrtümern.

Darum: Nimm deinen Mut zusammen, notiere dir gegebenenfalls kurz deine Gedanken, hoch mit der Hand und raus mit der Sprache! Wenn es gut läuft, freut man sich über die kritische Nachfrage und eine Debatte entsteht. Vielleicht blicken deine Kommiliton*innen sogar neugierig auf, nicken angeregt und kommen nach dem Seminar auf dich zu: „Hey, das habe ich mich auch gefragt! Danke!“

Mach dir keine Sorgen, falls doch jemand schief guckt oder eingeschnappt ist. Wir Studierende haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, unangenehme Fragen zu stellen. Das ist keine spitzfindige Wortklauberei, sondern bringt uns bestenfalls auch gesellschaftlich voran.

„Im Mittelpunkt der Ausbildung der Studenten steht dagegen das Bemühen, in den Entstehungsprozess wissenschaftlicher Erkenntnisse selbst tiefer einzudringen, weil nur so ihre Relevanz in der Berufspraxis und für die Gesellschaft zu verstehen ist, und weil nur so neue Probleme der Praxis aufgrund wissenschaftlicher Methoden und Ergebnisse zu bewältigen sind.“

(SDS, 1961, I.2, Abs. 9)

Eine Garantie, dass die eigene Frage klug ist, gibt es nicht. Sie zu stellen kann anstrengend sein, macht dafür aber alle Beteiligten klüger. Denn nur durch eine gemeinsam Reflexion des gelernten können wir die Inhalte  hinterfragen und uns gemeinsam dem neoliberalem Studium stellen.

Benni R. studiert Ästhetik in Frankfurt a.M. und setzt sich für kritische Wissenschaften und bessere Studienbedingungen ein.