»In Frankreich keimt ein neuer Frühling. Und Mai steht erst vor der Tür!«

»In Frankreich keimt ein neuer Frühling. Und Mai steht erst vor der Tür!«

Die Proteste in Frankreich gegen Macrons »Rentenreform« sind so groß wie seit Jahrzehnten nicht. Die Gewerkschaften orientieren auf direkte Aktionen, und in den Städten entlädt sich die Wut auf den Straßen. Jetzt ist die Frage, ob all das reicht, um die Grundfesten des französischen Systems zu erschüttern.

Am 10. Januar stellte die französische Premierministerin Élisabeth Borne der Nationalversammlung die von Präsident Emmanuel Macron vorangetriebene »Rentenreform« vor. Diese sieht vor, das Renteneintrittsalter in Frankreich bis 2030 von 62 auf 64 Jahre anzuheben und die Beitragsjahre für eine vollständige Rente auf 43 festzuschreiben. Doch nachdem an sechs Streiktagen Millionen von Menschen gegen die Rentenreform auf die Straße gegangen sind, umschiffte die französische Regierung die Abstimmung in der Nationalversammlung mithilfe des Verfassungsartikels 49.3. Dieser sieht vor, dass ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament durchgesetzt werden kann, wenn die Regierung anschließende Misstrauensanträge übersteht. Die Reaktionen lassen nicht auf sich warten: Ausgehend vom Pariser Place de la Concorde breiten sich im ganzen Land spontane Demonstrationen aus wie ein Lauffeuer. Die französische Polizei reagiert vermehrt mit brutaler Repression.

Die Bewegung gegen die Rentenreform hatte bis Mitte März bereits Geschichte geschrieben: Knapp zwei Millionen Streikende und Demonstrierende hatten am Donnerstag, dem 19. Januar 2023, den Reigen der Proteste eröffnet. Das hatte es im Nachbarland seit 1995 nicht gegeben. Zwischen dem 19. Januar und dem 7. März rief ein gewerkschaftsübergreifendes Bündnis zu den insgesamt sechs Streiktagen auf. Die Teilnahme des größten französischen Gewerkschaftsbundes, der CFDT, stellte ein absolutes Novum dar.

Steigende Aktionsbereitschaft der Gewerkschaften

Neben den klassischen Demonstrationen durch die Boulevards der Innenstädte setzte die Gewerkschaft CGT von Beginn an auch auf direkte Aktionen, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen. So kündigte die CGT-Énergie bereits am 26. Januar in einer offiziellen Mitteilung an, zunehmend sogenannte »Robin-Hood-Aktionen für das Allgemeinwohl« durchführen zu wollen: Die Angestellten verstellten die Strom- und Gaszähler von Krankenhäusern, Vereinen und kleinen Bäckereien, um ihnen bei den exorbitant angestiegenen Energiekosten unter die Arme zu greifen. Seit dem 7. März verstärkt die Gewerkschaft gleichzeitig den Kampf in den Ölraffinerien und den Häfen: Die zwei größten Ölraffinerien des Landes von Gonfreville-l‘Orcher und Donges stehen still, und die naheliegenden Häfen von Le Havre und Saint-Nazaire sind teilweise lahmgelegt.

Außerdem werden, ähnlich wie bei der Bewegung der Gelbwesten, tagsüber Autobahnen und Mautstationen blockiert. Abends werden die Zentren der Großstädte wie Paris, Lyon, Nantes und Bordeaux zum Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Tausenden Demonstrierenden und der Polizei. Symbolische Orte der Macht wie die Präfektur im 4. Arrondissement von Lyon werden gestürmt und in Brand gesetzt.

Die Rolle der Linken

Angesichts dieser brodelnden Lage versucht die (gesellschaftliche) Linke den Kampf auf drei Ebenen voranzubringen. Auf betrieblicher Ebene arbeitet das Pariser »Netzwerk für den Generalstreik« an der Koordinierung eines branchenübergreifenden unbefristeten Streiks. Die autonome Bewegung versucht in den Städten die Wut gegen eine als antidemokratisch empfundene Regierung in täglich stattfindenden Spontandemonstrationen zu kanalisieren. Nicht zuletzt fungiert die Nupes, eine linke Koalition unter Führung von Jean-Luc Mélanchon, als Sprachrohr der Straße und ihrer Militanz in der Nationalversammlung. Die Partie im Kampf gegen die ungerechte Rentenreform wird die Linke nur auf der Straße gewinnen können. Und zwar wenn das wütende Herz der Spontandemonstrationen und das klare Bewusstsein eines Generalstreiks zusammenfinden. Vor 55 Jahren, im »Mai 68«, war genau das geschehen: Millionen von Menschen hatten sich mit den Streikenden und Studentenprotesten solidarisiert und Frankreich tiefgreifend verändert. Ein »neuer Mai 68« könnte auch heute die Grundfesten des politischen Systems der 5. Republik erschüttern.

Lukas Ferrari studiert Konferenzdolmetschen an der Uni Leipzig und hat schon mal gelbe Menschen mit Motorsägen auf den Pariser Champs Élysées gesehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der critica Nr. 30. Du erhältst sie beim SDS in deiner Stadt oder kannst sie hier online lesen.