Alle Hoffnung verloren? – Wahlergebnis in der Türkei

Alle Hoffnung verloren? – Wahlergebnis in der Türkei

Nach 21 Jahren hat ein tiefgespaltenes Volk Erdoǧan und seine reaktionären Verbündeten auf die nächsten 5 Jahre zum Präsidenten gewählt. Den Preis dafür werden vor allem Frauen und LGBTQ+ Personen zahlen.


Es ist der 28. Mai, ein warmer Sonntagabend, der schon erahnen lässt, wie schön der Sommer werden wird. Aus der Ferne nehme ich das Hupen von Autos und auch einige Stimmen war. Manchmal mischt sich ein Pfeifen darunter, aber vor allem klingt das alles nach einem Kanon des Jubels. Ich bin auf meinem Rennrad unterwegs durch die Bielefelder Innenstadt und was ich nun sehe, lässt in mir grausige Erinnerungen und Emotionen hochkommen. Ein Meer von Flaggen – schlimm genug – aber vor allem türkische Nationalflaggen, die rechtsextreme MHP-Flagge mit drei Halbmonden, die an die Kriegsflagge der Osmanen erinnern soll. Und wie soll es auch nicht anders sein: Ein sehr großes Banner, dass aus einem 5er-BMW steigt, mit dem Wappen der osmanischen Herrscherdynastie. Überhaupt viele Karosserien meiner Landsleute, aus deren Fenstern die Hände zum Wolfsgruß hinausragen. Mit einem Mal wird mir klar: Erdoǧan hat die Wahl gewonnen.

Warum ich nicht gebannt vor dem Fernseher oder Smartphone hockte? Warum ich, als wäre es ein »ganz normaler Sonntagabend«, so getan habe, als würde sich das Schicksal eines ganzen Landes, in dem das Leben und die Würde von Menschen auf dem Spiel standen, nicht stattfinden? Weil ich natürlich wusste, dass diese Wahl bevor die erste Stimme abgegeben, schon verloren war. Ich wusste es, verdrängte es und dennoch habe ich wie ein kleines Kind in meinem Herzen auf irgendeinen guten Ausgang gehofft. Irgendwann hätte mich schon jemand, vielleicht aus meinem Freundeskreis oder meiner Familie, angerufen und gesagt: »Hey du Schwarzmaler, der Verrückte vom Bosporus hat doch nicht gewonnen, Kemal-Ghandi ist jetzt unser Präsident!« Nun, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.

Bedrohung, Manipulation und Unterdrückung der Zivilgesellschaft

Die Wahlen fanden unter sehr unfairen Bedingungen statt, bei denen die Opposition zum Scheitern verurteilt war. Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, wurde kürzlich zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt und mit einem Verbot öffentlicher Ämter belegt. Alles, weil er Mitglieder des Obersten Wahlrats beleidigt haben soll. Dies machte es der Opposition unmöglich, ihren vielleicht vielversprechendsten Kandidaten aufzustellen. Dies geschah vor dem Hintergrund einer voreingenommenen Medienberichterstattung, fortwährender Diffamierungskampagnen gegen den letztendlichen Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu, Bedrohungen, Manipulationen und einer Unterdrückung der Zivilgesellschaft, wie beispielsweise der Verhaftung von 126 kurdischen Anwält*innen, Aktivist*innen und Politiker*innen  Ende April in Diyarbakır.

»Die Familie ist uns heilig«

In einem Land, in dem die Justiz heute nicht viel mehr tut, als die von der Regierung vorgegebenen Politiken abzusegnen, stand alles auf dem Spiel. Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass für Menschenrechtsverteidiger*innen die Aussicht auf weitere fünf Jahre unter Erdoğan beängstigend ist. Frauen- und LGBTQ+-Rechtsgruppen werden sich unmittelbar im Visier befinden. In seiner ersten Siegesrede in der Nacht zum Montag in Istanbul richtete Erdoğan erneut seine Aufmerksamkeit auf LGBTQ+-Gruppen. »Könnten diese LGBT-Elemente jemals ihren Weg in die AK-Partei finden?«, fragte er, und erhielt ein überwältigendes »Nein!« vom Publikum. »Die Familie ist uns heilig«, fuhr er fort. Ein Merkmal, das sich die Rechten auf dem ganzen Erdball teilen.

Seine AKP hat nicht nur die Wohlfahrtspartei (YRP) in ihre Allianz aufgenommen, sondern auch vier führende Mitglieder der kurdischen Partei der gerechten Sache (Hüda-Par) auf ihrer Kandidat*innenliste  für das Parlament nominiert. Alle vier wurden am 14. Mai ins Parlament gewählt. Hüda Par ist eng mit der kurdischen Hisbollah verbunden, einer sunnitischen militanten Gruppe, die in Südostanatolien entstanden ist und in den 1990er Jahren traurige Berühmtheit erlangte. Mitglieder der Partei folterten und töteten Hunderte Aktive und Unterstützer*innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie andere Gegner ihrer Ideologie. Sie fordert die Geschlechtertrennung in Schulen und argumentiert, dass staatliche Dienstleistungen für Frauen wie Gesundheitsversorgung oder Bildung nur von weiblichen Mitarbeiter*innen erbracht werden sollten. In dem Manifest der Neuen Wohlfahrtspartei wird gefordert, dass »Moral, Keuschheit, Barmherzigkeit, Hingabe und Produktivität« bei Frauen durch weibliche »Vorbilder« gestärkt werden sollten. Hisbollah und Hüda Par haben sich aggressiv gegen LGBTQ+-Rechte ausgesprochen und sie als »Abweichung der Natur« bezeichnet sowie die Kriminalisierung von Ehebruch gefordert. Ebenso haben sie versprochen, das Gesetz Nr. 6284 abzuschaffen, das von der AKP-Regierung im Jahr 2012 eingeführt wurde und darauf abzielt, Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Frauenrechtsaktivist*innen werfen ihnen vor, auf eine »Taliban-ähnliche« Herrschaft abzuzielen. Die Gefahren, denen Frauen und LGBTQ+-Menschen in der Türkei gegenüberstehen, haben in den letzten Jahren bereits zugenommen. Femizide und geschlechtsbezogene Gewalt nehmen zu. Erdoğan verglich Abtreibungen im Jahr 2012 mit Mord. Obwohl es ihm nicht gelang, ein Gesetz einzuführen, das Abtreibungen nach sechs Schwangerschaftswochen verbieten würde, haben Frauen in der Türkei immer noch Schwierigkeiten, sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu bekommen. Die Märsche zum Internationalen Feministischem Kampftag werden zunehmend mit Polizeigewalt konfrontiert, die Istanbul Pride Parade ist seit 2015 verboten. Feministische und Frauenrechtsgruppen werden zunehmend kriminalisiert. Seit dem Putschversuch von 2016 mussten viele zivilgesellschaftliche Organisationen, die gegen Diskriminierung und geschlechtsbezogene Gewaltkämpfen, ihre Arbeit niederlegen. 

Im Jahr 2021 trat Erdoğan einseitig aus der Istanbul-Konvention aus, einem internationalen Vertrag zur Bekämpfung von geschlechtsbezogener Diskriminierung und Gewalt. Frauenrechtsgruppen berichteten, dass Polizist*innen sich geweigert haben, Opfern häuslicher Gewalt zu helfen und sich dabei auf den Austritt aus der Konvention berufen haben. Im letzten Jahr wurden gegen die feministische Plattform »We Will Stop Femicide«, die sich gegen geschlechtsbezogene Gewalt einsetzt und eine monatliche Zählung ermordeter Frauen führt, haltlose Anschuldigungen wegen »Handelns gegen die Moral« erhoben. Wenn die Gruppe schuldig befunden wird, wird sie geschlossen. Die nächste Anhörung findet am 13. September statt.

Gründliches Umkrempeln der Wirtschaft

Neben den Menschenrechtsverletzungen bleibt es wichtig zu beobachten, wie sich die wirtschaftliche Basis der Türkei verändert. Während Erdoǧan zu Beginn noch auf die Gunst von Kapitalblöcken angewiesen war, die mit seiner Wahl auf einen wirtschaftlichen Aufschwung hofften, hat er jetzt nach über zwanzig Jahren politischer Herrschaft auch die Wirtschaft gründlich umgekrempelt. In den Sektoren, in denen seine Kapitalistenfreund*innen sitzen, sind Erfolge und Aufschwünge zu verzeichnen, in den restlichen Bereichen jedoch katastrophale Einbrüche. Speziell in (Auf-) Rüstung wird investiert: Die Bayraktardrohne, die aktuell im Ukrainekrieg eingesetzt wird, avanciert zum Kassenschlager. Aber es geht über Drohnen hinaus: Die Türkei hat vor kurzem ihren ersten, aus eigener Produktionen stammenden Flugzeugträger eingeweiht. Erdoǧan hat sich seine eigene wirtschaftliche Basis geschaffen, die den auf ihn zugeschnittenen Überbau am Leben hält: angefangen beim Bausektor, über die Privatisierung von Krankenhäusern und Schulen landesweit bis hin zur energischen Förderung der Rüstungsindustrie. Aber auch seine eigenen Anhänger*innen werden ausgeblutet, weil sich die Bedingungen des Lebens aller Menschen gleichermaßen verschlechtern. Sie hoffen auf Brot und ein Dach über dem Kopf, für das der »neue Vater der Türken« sorgen soll. Dabei merken sie nicht wie er mit dem Löffel gibt und mit der Kelle nimmt.

Dennoch ist diese Wahl vor allem eine Absage an alle meine linken Freunde, die Anhänger*innen der Verelendungstheorie sind. »Wenn es den Leuten schlecht geht, dann wird sich das Volk schon erheben!« Tut mir leid, aber: Mit Nichten. Der Lira-Kurs brach sofort nach der Verkündung der Wiederwahl ein, die Inflation liegt auf einem Rekordhoch und gerade in den Erdbebengebieten, wo immer noch keine angemessene Hilfe ankommt, wählen die Menschen ihn, »Reis«, wie sie ihn nennen. »Führer« auf Deutsch. Nun wird dieser Mann dieses Land und ihre Menschen ins Dunkle
führen, in einen Abgrund, dessen Ende noch lange nicht abzusehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht resignieren dürfen. Dafür sind meine Freund*innen, meine Familie, meine Genoss*innen nicht gestorben, haben ihr Leben riskiert, ihre Existenz teilweise aufgegeben, oder sind an der Mauer der Repressionen, aufgebaut durch die Herrschaftsjahre, zerschellt. Und die hiesigen Politiker*innen? Was kümmert sie schon das Volk der »Kümmeltürken«, wie wir seit 50 Jahren in diesem Land genannt werden. Bundeskanzler Olaf Scholz etwa hat gleich nach der Wahl dem Diktator Erdoǧan zum Sieg gratuliert.

Was bleibt.

Während ich schließlich auf meinem Fahrrad, voller Wut und Verzweiflung über den Jahnplatz fahre, um mich herum fast nur türkische Faschist*innen und Islamist*innen, treffe ich eine kleine Gruppe Jugendlicher. Vielleicht sind es fünf, vielleicht auch sechs. Und sie sind es, die aus jugendlichem Leichtsinn, aus Lust zur Provokation eine kleine Griechenland-Flagge dieser Masse, die alle Straßen blockiert, entgegenhalten. Ich muss lachen, halte an, frage, woher sie kommen und ob sie keine Angst hätten, dass irgendwer sie verletzen könnte. Einer der Jüngsten antwortet mir: »Nein Bruder, ich komme aus dem Norden Griechenlands, ich bin nicht mal ganzer Grieche, zur Hälfte Roma. Ich kann mir das hier nicht geben. Du denkst, wir provozieren? Die haben doch angefangen mit ihrem Bozkurt-Gruß und diesen ganz Leuten!« Ich muss grinsen und muss an die 25 Millionen Menschen denken, die Erdoǧan eben nicht gewählt haben. Was wirklich bleibt, sage ich mir, ist zum Glück der Kampf, besser gesagt: Unser Widerstand, mit dem Erdoǧan und seine Schergen rechnen müssen.

Oğulcan Yumuşats Familie stammt aus Hatay (eines der Erdbebengebiete) an der syrischen Grenze und sowohl arabische als auch türkische Wurzeln. Außerdem ist er Vorsitzender des 48. allgemeinen Studierendenausschusses der Universität Bielefeld.