Neoliberale Uni – kein Ort für Neurodivergenz

Neoliberale Uni – kein Ort für Neurodivergenz

Universitäten präsentieren sich gerne als Werkstätten der Ideenoffenheit und Vielfalt. Trotz allen Bemühungen um Inklusion bleibt in unserer Gesellschaft ein tief verwurzeltes Kernproblem.

Studieren ist für viele eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, dabei bedeutet Studieren immer auch Leistungen erbringen, um am Ende einen Abschluss zu erhalten. In unserer neoliberal ausgerichteten Gesellschaft ist ein abgeschlossenes Studium meist die Grundlage für eine berufliche Karriere. Die Anforderungen an Studierende vermitteln klar, welche Fähigkeiten und Verhaltensweisen ein Mensch mitbringen muss, um als »funktionierendes« Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden.

Klausuren und Fristen können enormen Stress auslösen. Das Studium in Regelstudienzeit abzuschließen, ist für die meisten ein unrealistisches Unterfangen. Trotzdem sind BAföG und Stipendien oftmals an das Erbringen von Leistungen und Einhalten der Regelstudienzeit gebunden. Dieser Widerspruch zwischen Erwartungen und Realität wird noch schwerwiegender durch die schiere Menge an Studierenden, die auf diese Zahlungen angewiesen sind.

Unsere Gesellschaft ist nach einem neurotypischen Ideal ausgerichtet. Es ist die logische Konsequenz eines Systems, in dem der Wert eines Menschen an seinen wirtschaftlichen Nutzen gekoppelt ist. Für neurodivergente Menschen, sowie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, ist ein Anpassen an die Erwartungen dieser Gesellschaft, also oft eine besondere Belastung. Das bedeutet, dass ihr sozioökonomischer Hintergrund eine noch größere Bedeutung dafür hat, ob sie studieren können. Menschen, denen Barrieren die volle und gleichberechtigte Teilhabe an dieser Gesellschaft nicht ermöglichen, können zwar eine Verlängerung des BAföGs beantragen, allerdings ist dafür auch eine Diagnose und ein Nachweis nötig, dass die sogenannte Behinderung Grund für die Verzögerung ist. Diese fehlen oft, zumal Diagnoseverfahren häufig noch veraltet sind oder die nötige Infrastruktur nicht vorhanden ist. Da Neurodivergenz in vielen Fällen unsichtbar ist oder viele neurodivergente Menschen damit nicht offen umgehen können oder wollen, wird dies zusätzlich deutlich erschwert.

Die Universität existiert nicht losgelöst von der Gesellschaft, weswegen das Kernproblem auch nicht auf dem Campus zu finden ist. Die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sind für Menschen mit Behinderung und neurodivergente Menschen immer noch schwierig. Für den freien Markt spielen die Leistungsanforderungen eine noch größere Rolle und werden mit noch größerer Härte durchgesetzt als an der Universität.

Neurodivergente Menschen erleben am Arbeitsplatz die gleichen Probleme wie an der Universität. Nur steht außerhalb des Campus die Lebensgrundlage auf dem Spiel. Menschen mit Behinderung werden oft immer noch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und müssen in separaten Werkstätten arbeiten. Es gilt dort nur ein »arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis«,  sodass der Mindestlohn dort nicht gilt: Ein trauriger Beweis dafür, wie überfordert der Kapitalismus damit ist, seinen Ausbeutungswahn mit der Menschenwürde vereinbar zu machen.

Während die Universität oft als Ort der Selbstverwirklichung dargestellt und wahrgenommen wird, ist sie im kapitalistischen System aber tatsächlich ein Ausbildungsort für die, die es sich leisten können, sowohl finanziell als auch psychisch. Ein Hochschulabschluss ist schließlich mittlerweile meist Voraussetzung für eine ganze Bandbreite an Berufen.

Inklusion würde das kapitalistische System nämlich vor die Frage stellen: Wieso Menschen an der bestmöglichen Ausbildung teilhaben sollten, wenn diese nicht in der Lage sind, Höchstleistungen zu bringen und für das System ‚richtig‘ zu funktionieren?

Somit kann eine vollkommen inklusive Uni in diesem profitorientiertem System nicht existieren.

Begriffserklärung

Neurodivergenz dient als Sammelbezeichnung für verschiedene neurologische Konditionen, darunter fallen das Autismus-Spektrum, AD(H)S, Persönlichkeitsstörungen und weitere. Neurotypisch steht im Gegensatz dazu als Begriff für einen neurologisch nicht abweichenden Typus, der den Großteil unserer Gesellschaft ausmacht.

Die Bezeichnung »Störung« ist in der Medizin noch üblich, aber umstritten und wird von Teilen der Community abgelehnt. Ein Framing das Menschen nicht funktionieren, ist besonders der neoliberal geprägten Gesellschaft und ihrer exkludierenden Natur geschuldet.

Dario promoviert derzeit in Mainz, während Lynn Thomas Freiversuche wie Semester sammelt. Beide sind neurodivergent, was sich beim Prozess dieses Artikels auch gezeigt hat.