Der Teufel sitzt nicht im Detail, sondern im Kapitalismus – Teil II

Der Teufel sitzt nicht im Detail, sondern im Kapitalismus – Teil II

Wie der Kolonialismus die bürgerliche Demokratie hervorbrachte – und wie der Kolonialismus demokratische, soziale und ökonomische Entwicklung verhindert hat

Im Folgenden sollen die Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Demokratie in seiner historischen Entwicklung in Westeuropa sowie seiner entwicklungshemmenden Wirkung in Westasien sowie Nordafrika dargelegt werden.

In der Forschungsliteratur zu Nordafrika und Westasien wird die Bedeutung von »Mittelschichten« für die gesellschaftliche Entwicklung betont. Das Alltagsverständnis von Mittelschichten ist streng assoziiert mit fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in denen der größte Teil der Bevölkerung einen saturierten Lebensstandard genießen kann. Der hier in diesem Forschungszusammenhang benutzte Begriff der »Mittelschicht« meint in Westeuropa die aufkeimende Bourgeoisie. Sie ist eng mit der industriellen Revolution und den dazugehörigen gesellschaftlichen Umbrüchen verbunden. Die Kernpunkte dieser Literatursparte sind im Werk »Die Rolle der Mittelschichten im Arabischen Frühling« von Rachid Ouaissa zu finden.

Die Hauptthese ist, dass diese aufkeimenden »Mittelschichten« (Mitte zwischen feudalem Adel und großer Masse an Bauerntum) im endenden Mittelalter der wichtigste Träger der Industrialisierung und des politischen Systemwechsels zur liberalen-parlamentarischen Demokratie in Mittel- und Westeuropa wurde. Diese Mittelschichten, bestehend aus urbanen Händlern, selbstständig Beschäftigten und aufsteigenden Gruppen von Ingenieuren, Wissenschaftlern, Technikern, seien eine neue, wachsende soziale Basis in der bisherigen feudal organisierten (Klassen-)Gesellschaft gewesen. Ihre ökonomische Dominanz verdrängte die feudalistische Produktionsweise und diese ökonomische Entwicklung war die Basis für das Durchsetzen einer politischen Ordnung, die die Kapitalakkumulation der aufkeimenden Mittelschichten besser organisieren kann, nämlich die liberale Demokratie. Das war die Grundvoraussetzung für die Entmachtung des Adels zum Ende der Feudalgesellschaft hin zur kapitalistischen Industriegesellschaft.

Kolonialismus verhindert Industrialisierung in Nordafrika & Westasien – bedingt jedoch die Industrialisierung in Westeuropa

Anders als in Mittel- und Westeuropa sei das hingegen in Nordafrika bzw. Westasien: Für das Osmanische Reich führt Athanasios Gekas aus, dass die Herausbildung von Kaufleuten in den Häfen des östlichen Mittelmeers zwar eine aufkeimende Bourgeoisie und gleichzeitig kosmopolitische Bürger hervorbrachte. Das Osmanische Reich war jedoch ökonomisch sowie machtpolitisch den industriellen Zentren unterlegen, was sich in niedrigeren Einfuhrzöllen als Ausfuhrzöllen und der niedrigeren Wettbewerbsfähigkeit im Handwerk zeigte. Eine chronologische und soziologische Untersuchung von Kemal Haşim Karpat beschreibt die Auseinandersetzungen dieser aufkeimenden Mittelschicht im Zeitalter des Osmanischen Reiches. So war die Ausfuhr von Rohstoffen und Primärprodukten und die gleichzeitige Einfuhr von billigen Manufakturwaren im Handel mit den industriellen Zentren charakteristisch für die halbkolonialen Beziehungen. Daher sind die dortigen Mittelschichten geprägt von kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen. Während in Westeuropa durch die Industrialisierung die alten Mittelschichten aufblühten, war diese Mittelschicht in der Peripherie eher geprägt von Zwischenhändlern für Primärprodukte.

Die Ausfuhren von Tabak und anderen Rohstoffen wie Wolle und Zucker dienten für den direkten Konsum oder als Vorprodukte für die industriellen Zentren unter anderem in Westeuropa. Diese Abhängigkeitsverhältnisse führten in der Peripherie dazu, dass keine produktiven Reinvestitionen von den handelsintensiven Mittelschichten getätigt wurden und keine Akkumulation oder technische Weiterentwicklung eine solche Mittelschicht erstarken ließen. Diese Mittelschichten erlangten somit keine ökonomische Dominanz innerhalb ihrer Gesellschaften. Stattdessen zeichnen sich die Mittelschichten in der Region durch ein klientelistisches Patronagesystem aus. Sie sind einbezogen in die klerikalen Strukturen und entwickeln keine Dominanz, die potentiell zur Überwindung dieser Strukturen führen könnte, wie es in Europa der Fall war. Stattdessen gehen diese Mittelschichten in Bündnisverhältnisse mit den feudalen Herrschenden. Daher wirkten diese Beharrungskräfte von klientelistischen Strukturen bei kolonialabhängigen Mittelschichten nach und haben zu der spezifischen Entwicklung dieser Länder beigetragen.

Der sogenannte »arabische Frühling« kann daher als Demokratiebewegung ausgehend von diesen postkolonialen »Mittelschichten« verstanden werden. Es waren damals die akademisch-gebildeten Schichten in Kairo auf der Straße – nicht das sogenannte Lumpenproletariat. Die bisherige Bündniskonstellation zwischen Bürgertum und feudalistisch Herrschenden zeigte ihre Risse auf.

Doch in den meisten dieser Länder wirkt die koloniale wirtschaftliche Abhängigkeit bis heute fort – und damit auch die Beharrungskräfte von feudalen Strukturen, die nicht zu vergleichen sind mit liberalen Demokratien in Westeuropa. Andere Gesellschaftsformationen entwickeln andere politische Ordnungen. Der Kolonialismus hat potentielle Gesellschaftsentwicklungen systematisch unterdrückt und damit stark beeinflusst.

Daneben war die Formierung als befreite Nationalstaaten unter dem Joch der kolonialen Grenzziehungen eng verknüpft mit einer republikanisch-nationalistischen Demokratie-Bewegung des Panarabismus, also der Idee des Zusammenschlusses arabischer Staaten unter Führung Ägyptens als Souveränitätsprojekt gegen die Kolonialherrschenden. Dabei ist dieser Nationalismus nicht im heutigen Verständnis von der Ungleichwertigkeit von Völkern zu verstehen, sondern als Entwicklungsschritt und Errichtung eines unabhängigen arabischen Staates, der Mittel zur Befreiung vom unterdrückenden Kolonialregime sein soll. Bis heute prägt dieser so gearteter Nationalismus vielen Ländern Nordafrikas und Westasiens.

Islamismus – Die Geister, die ich rief

Fest steht allerdings, dass die hochindustrialisierten westlichen Gesellschaften eine Mitverantwortung für die Situation in vielen islamisch geprägten Ländern haben: Historisch sowie heute haben der Kolonialismus und die imperialen Ambitionen westlicher herrschender Klassen zu den Kriegen beigetragen oder waren direkte Verursacher dieser. Der ökonomisch gewachsene Kolonialismus hat durch seine Ungleichheit die Rahmenbedingungen für Phänomene wie den Terrorismus geformt, vielfach auch in Form von kolonialen Befreiungsbewegungen, die hierzulande als »terroristisch« gelten, allerdings objektiv den Charakter von Widerstand haben, wie es in Algerien war.

Die Verrohung ist in der Ungleichheit vorprogrammiert, aber auch Widerstand gegen diese Verhältnisse – mal säkular, friedlich, gewaltfrei, aber auch mal religiös, gewaltvoll und fundamentalistisch. Hier sind also die historisch gewachsene Politische Ökonomie sowie die Rahmenbedingungen entscheidend, weniger die Religion.

Man würde es sich etwas zu einfach machen, wenn man diese ökonomischen Entwicklungen schlichtweg kulturalisiert und aus der Identität oder dem Glauben heraus erklärt. Der Islam erklärt erstmal nichts, denn ein Großteil der muslimischen Menschen sind tatsächlich unauffällig normale, »brave«, arbeitende Bürger in Deutschland. Es wäre daher ungenügend »den Islam« oder, diskursiv tautologisierend, also wiederholend, den »politischen Islam« als Erklärung für die aktuellen Entwicklungen heranzuziehen.

Migrationsdebatte ist eine Sündenbock-Debatte

Noch zynischer ist die Debatte zu Antisemitismus und dessen vermeintlich historische Überwindung in Deutschland – im vermeintlichen Gegensatz zum Nahen Osten. Beide Debatten erscheinen zunehmend als Ablenkungsdebatte von den weltweiten, europäischen und auch innerdeutschen Ungleichheiten. Die Debatte ist Ausdruck eines neuen Nationalismus. Der neue Nationalismus läuft entlang der neuen Machtblöcke in der Welt, die zunehmend den Konfrontationskurs aufnehmen, da die Hegemonie des US-Imperialismus angefochten wird. Dieser US-Imperialismus reagiert auf seinen Abstieg zunehmend aggressiver. Um vom ökonomischen Kern der globalen Konflikte, also der Marktkonkurrenz, abzulenken, tarnt sich der neue Nationalismus zunehmend als moralisch korrekte »Demokratie« und trägt das Feindbild der »Autokratie« in sich. Das lenkt nicht nur von den eigentlichen gegensätzlichen ökonomischen Interessen der Machtblöcke ab, sondern leistet dem demagogischen Sündenbock-Denken gewaltigen Vorschub.

Kulturalisierung von sozialen Fragen

Über Kultur und Religion wird die vermeintliche Rückständigkeit diagnostiziert, statt wie im Kolonialismus über »Rasse« oder »Ethnie« zu sprechen. Die extreme Rechte legitimiert diese Ungleichheit zwischen den Völkern, indem sie die Ungleichheit mit einer vermeintlich naturgegebenen Ungleichwertigkeit dieser Menschengruppen begründet. Statt diese Ungleichheit naturgegeben anzunehmen, muss real vorhandene gesellschaftlich geschaffene Ungleichheit überwunden werden.

Die Einwanderung hat also nicht die Konflikte nach Deutschland importiert, sondern die neoliberale Politik Deutschlands hat die Einwanderung im Sinne des Kapitals oder durch Kriegsschuld sowie Kolonialismus international überhaupt erst mitverursacht. Weil von diesen Vermittlungsprozessen und den Rahmenbedingungen abstrahiert wird, wirkt der Hinweis auf den »politischen Islam« als Erklärungsgrund für gesellschaftlich nicht akzeptiertes »Fehlverhalten« von Menschen zunehmend pseudokonkret. Er klammert die historischen Verhältnisse aus (Kolonialismus, Kriegserfahrungen, Flucht, Rassismus). Objektive Beschränkungen werden als subjektive Beschränktheit muslimischen Menschen oder kolonialisierten Ländern in die Schuhe geschoben.

Yusuf, 28, studiert Politikwissenschaften in Marburg und beschäftigt sich unter anderem mit Ursachen von Rassismus.