17 Apr Wissenschaft für Alle heißt Wissenschaft mit Allen!
Schluss mit der Mentalität des Kalten Krieges! Warum wir dringender denn je internationale Wissenschaftskooperationen zur Befreiung der Menschheit und Humanisierung der Verhältnisse brauchen. Ein Kommentar.
Am 15. Dezember 2023 hat der Rat des Conseil européen pour la recherche nucléaire (CERN, Europäische Organisation für Kernforschung) entschieden, die institutionellen Kooperationen mit Russland nach ihrem Auslaufen im November ‘24 nicht zu erneuern. Grund hierfür ist laut Resolution des Rats der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine Anfang 2022. Mit dieser Entscheidung hat sich das CERN deutlich gegen seine 70-jährige Geschichte als Organisation im Sinne des Friedens, der Völkerverständigung und der gemeinsamen humanistischen Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis gewendet.
Das CERN wurde 1954 ursprünglich gegründet, um das Auswandern von Wissenschaftler*innen aus dem kriegszerstörten Europa zu verhindern und um den Ausbau europäischer, wissenschaftlicher Zusammenarbeit zu fördern. Unter dem Eindruck des Schreckens des Zweiten Weltkrieges wurde in das Gründungsdokument eine Klausel zur zivilen Forschung festgeschrieben. Diese besagt, dass die Arbeiten am CERN sich nicht mit militärischen Anforderungen befassen und die Forschungsergebnisse mit der Öffentlichkeit geteilt werden sollen.
Statt Neues schaffen, die Lösung der globalen Probleme
Schon 1967 wurde ein offizielles Abkommen zur Zusammenarbeit mit dem sowjetischen physikalischen Forschungsinstitut Joint Institute for Nuclear Research (JINR) geschlossen. Die gemeinsame Arbeit fand im Geiste von Artikel 1 der UN-Charta statt: Zur Förderung der Lösung von globalen Problemen der Menschheit. Über die Zeit des Kalten Krieges hinweg wurde an diesen Kooperationen festgehalten, mit der Überzeugung, dass die Wissenschaft nur durch beidseitigen Austausch zur Verständigung und Frieden beitragen kann.
Neben der Herausforderung der Abrüstung stehen heute viele weitere Probleme im Raum, die nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden können. Der letzte Bericht des Bulletin for Atomic Scientists listet eine Fülle von Herausforderungen auf: Künstliche Intelligenz, Genmanipulation und nicht zuletzt den Klimawandel. Die Autor*innen des Berichts führen mit Nachdruck die Wichtigkeit zwischenstaatlicher Kooperation zur Lösung dieser Menschheitsprobleme aus. Diese Problematik wird in Russland deutlich, dessen Territorium zu zwei Dritteln aus Permafrostböden besteht. Das Auftauen dieser Böden würde einen Kipppunkt für das Weltklima darstellen. Durch Sanktionen, wie sie auch von Seiten des CERN verhängt werden, können heute wichtige Forschungsprojekte zur Untersuchung dieser Prozesse nicht ausgeführt werden.
Wissenschaft lebt von Zusammenarbeit. Ihre Geschichte ist eine des Briefaustauschs, von internationalen Konferenzen, intimen Gesprächen und institutionellen Absprachen. Der kooperative Charakter verleiht der Wissenschaft ihr Potential als vermittelnde Instanz in politischen Krisen und Kriegen. Unter anderem die UNESCO rief SESAME ins Leben, eine Organisation zur Förderung von physikalischer Forschung im Nahen Osten. Diese bringt Wissenschaftler*innen aus den Reihen sich sonst feindselig gegenüberstehender Akteure, wie Israel und Palästina, zusammen.
Aufbau von Vertrauen statt Feindbildern
Gemeinsame wissenschaftliche Arbeit schafft die Grundlage zum Diskurs abseits des Labors: Wer miteinander spricht, schießt wahrscheinlich nicht aufeinander. Feindbilder werden abgebaut, Propaganda wird wissenschaftlich-kritisch hinterfragt und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Nationale Interessen rücken in den Hintergrund zugunsten der Erkenntnis, dass wir zusammen die gleichen Lebensgrundlagen teilen und dass es diese Grundlagen im Sinne aller zu verbessern gilt, so wie es in der Charta der Vereinten Nationen festgelegt ist. Diese entstand als Konsequenz aus der Barbarei von zwei Weltkriegen, in denen die Wissenschaften wesentlich zu Leid und Zerstörung beigetragen haben. Die Forschung zur nuklearen Abrüstung ist ein Beispiel dafür, wie die Wissenschaft im historischen Bewusstsein ein Gegengewicht zur Logik des Krieges darstellen kann.
Grenzüberschreitende Kooperationen sind ein essenzieller Bestandteil der Wissenschaft und erlauben es, Diplomatie von unten zu betreiben. Diese sollten ausgebaut und der Austausch von Wissenschaftler*innen weltweit gefördert werden. Nur so können wir die Grundsätze des Völkerrechts verwirklichen.
Jonathan (24, Biophysik) und Ari (25, Kulturanthropologie und Wissenschaftsgeschichte) vom SDS Frankfurt am Main haben zuletzt den bundesweiten Zivilklausel-Kongress mitorganisiert.