09 Dez. »Sicherheit« für wen?
Im Namen der »Sicherheit« werden zunehmend rassistische und repressive Politiken durchgesetzt, die demokratische Rechte aushöhlen. Hinter dem vermeintlichen Schutz der Bevölkerung verbergen sich vor allem Abschiebungen und Spaltung.
Am 23. August 2024 werden drei Menschen in Solingen, von einem mutmaßlich islamistischen Täter, ermordet. Zu den Gefühlen von Trauer und Schock gesellt sich in den folgenden Tagen vor allem eins: ein zunehmend rassistischer und migrationsfeindlicher Diskurs.
Schon 2015 wurde eine Migrationskrise konstatiert. Vor allem die AfD stärkte damals rassistische Narrative. Einzelne Gewalttaten von Geflüchteten wurden seitdem immer wieder instrumentalisiert, um repressive Migrationspolitik salonfähig zu machen. Als in der Silvesternacht 2015 Berichte über sexuelle Übergriffe von vermeintlichen »Ausländern« laut wurden, nutzten rechte Politiker*innen und Medienschaffende diese beispielsweise, um ihre menschenverachtenden Positionen mit dem Schutz »deutscher Frauen« zu rechtfertigen.
Seitdem konnten wir erleben, wie sich der Diskurs immer weiter nach rechts verschiebt. Anstelle eines »Wir schaffen das!« aus Regierungskreisen will FDP-Chef Christian Lindner sich heute von »Denkverboten in der Migrationspolitik« lossagen, während Boris Rhein (CDU) meint, es müsse natürlich auch nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden und Straftätern und Gefährdern gehöre die Staatsbürgerschaft entzogen.
Die Zuspitzung zeigt sich jedoch nicht nur auf rhetorischer Ebene. Allein in diesem Jahr wurden umfassende Gesetze verabschiedet, die das Recht auf Asyl einschränken. Im Frühling beschloss man die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die erhebliche Verschlechterungen für Menschen auf der Flucht bedeutet. Ergänzt wurden diese Maßnahmen durch die Einführung von Bezahlkarten für Geflüchtete (siehe Seite 18). Als direkte Reaktion auf den Anschlag in Solingen verabschiedete die Bundesregierung jetzt ein sogenanntes »Sicherheitspaket«. Sozialleistungen für Geflüchtete werden damit gestrichen, wenn sie dem Dublin-Verfahren nach eigentlich in einem anderen EU-Land unterkommen müssten. Ihr Schutzstatus wird entzogen, wenn sie beispielsweise ihre Familie im Herkunftsland besuchen, und die Befugnisse von Verfassungsschutz und Polizei werden erweitert. So darf die Polizei nun biometrische Daten von Geflüchteten erfassen und abgleichen, während der Verfassungsschutz Geldströme von Geflüchteten kontrollieren darf, um die »Terrorismusfinanzierung besser zu bekämpfen«. Dabei soll der Anschein erweckt werden, dass die Gesetzesänderung dazu diene, die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren, da »der islamistische Terror eine der größten Gefahren für Deutschland darstellt«, wie die Bundesregierung selbst schreibt.
Mit der gleichen vorgeschobenen Rechtfertigung wird unter anderem das Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Schon 2022 wurden Demonstrationen rund um den Nakba-Gedenktag im Vorhinein verboten. Seit Ende 2023 haben sich die Verbote und Repressionen im Kontext der palästinasolidarischen Bewegung nochmals verschärft. Neben dem pauschalen Verbot von Demonstrationen gegen Besatzung und Genozid wurden auch Verbote von Symbolen und Ausrufen der palästinensischen Befreiungsbewegung ausgesprochen. Zudem ist die Polizei überdurchschnittlich gewaltsam gegen Demonstrierende vorgegangen. Blutige Nasen, gebrochene Arme und Jugendliche, die von Polizist*innen in Vollmontur zu Boden gedrückt wurden, waren dabei keine Seltenheit.
Auch die Diskussion um die Wehrpflicht und »Kriegstüchtigkeit« wird unter dem gleichen scheinheiligen Vorzeichen der Sicherheit geführt. 2022 macht Olaf Scholz über Nacht 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr locker und junge Erwachsene will er bald wieder zum Dienst an der Waffe verpflichten. Selbstverständlich erhöht sich »unsere« Sicherheit nicht, indem »wir« andere Länder militärisch bekämpfen. Krieg hat noch nie den Menschen selbst gedient. Er dient nur jenen, die sich an Waffenexporten bereichern, jenen, die ihre (ökonomische) Macht durch neu erschlossene Gebiete mehren und stabilisieren. Die Bevölkerung einer Nation wird lediglich vorgeschickt, um aus dem Schützengraben heraus ihre Genoss*innen aus anderen Nationen zu erschießen, bis es sie dann schließlich selbst erwischt. Dadurch schützen sie nicht ihre Familien, Nachbarn und Freunde, sondern Kapitalinteressen!
Genauso müssen wir auch erkennen, dass die aktuelle Migrationspolitik niemandes Sicherheit fördert. Schon 2015 ging es nicht darum, Frauen vor Gewalt und Übergriffen zu schützen. Sonst müssten die Träger von Frauenhäusern nicht noch acht Jahre später über massive Unterfinanzierung und 14.300 fehlende Plätze klagen. Es geht auch aktuell nicht darum, die Gefahr des Islamismus einzudämmen. Abschiebungen in Krisengebiete sind nur ein fehlgeleiteter und vor allem rassistisch motivierter Versuch, der Gewalt vorzubeugen, zu deren Entstehen die herrschende Politik selbst beiträgt. Wenn Menschen teils über Jahre hinweg die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben versagt bleibt, ihre materielle Lebensgrundlage nicht abgesichert ist und sie sich nicht respektiert fühlen, bietet das eine ideale Grundlage zur Radikalisierung. Ganz unabhängig davon, ob es sich nun um Asylbewerber*innen, oder deutsche Staatsbürger*innen mit Abstiegsängsten handelt .
Und auch der repressive Umgang mit jeglicher Form von Palästina-Solidarität gefährdet Menschen eher, als dass er sie schützt. Durch die Delegitimierung der Proteste und der Kritik (zum Beispiel an der deutschen Staatsräson) schützt die herrschende Klasse aber vor allem eins: ihren Herrschaftsanspruch.
Wir erleben also eine krasse Einschränkung von (demokratischen) Rechten, die vor ein paar Jahren noch als unvorstellbar galt. Eine Erklärung dafür, warum diese Politiken nun aber durchgesetzt werden können, bietet das Konzept der »Versicherheitlichung«. Wenn Themen wie Migration, Protest und Antimilitarismus zu »Sicherheitsproblemen« erhoben werden, erkaufen sich die Regierenden mehr Handlungsspielraum, um »Lösungen« für diese vermeintlichen Probleme zu erarbeiten. Wenn eine relevante Menge der Bevölkerung dieses Framing akzeptiert, können sie so auch rassistische und spalterische Politiken rechtfertigen.
Vom heuchlerischen Gerede über Sicherheit dürfen wir uns daher nicht in die Irre führen lassen. Denn um die herrschenden Verhältnisse zu überwinden, müssen wir solidarisch sein mit jenen, die aus ihren Heimatländern fliehen und uns gemeinsam gegen Staat und Kapital auflehnen. Denn heute gilt, wie schon vor 176 Jahren, »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
Viki (21) studiert in Düsseldorf Philosophie, Politik und Wirtschaft und findet, die gefährlichste Minderheit sind immer noch die Reichen.