»Soll bloß keiner später sagen, dass man ›das alles‹ nicht gewusst habe«

»Soll bloß keiner später sagen, dass man ›das alles‹ nicht gewusst habe«

Krise ist das Wort der Stunde. Aber von welcher Krise sprechen wir eigentlich alle? Renate Dillmann erklärt im Interview die gegenwärtige Krisendynamik und die Rolle der Medien.

Die aktuelle Zeit, das hören wir immer wieder, ist von Krisen geprägt. In was für einer Krise befinden wir uns gerade?

Die Frage ist: Um welche Krise und um wessen Krise geht es? Geht es um »Krise« im Sinn von: »mein Portemonnaie ist schon wieder in der Monatsmitte leer«? Um »Krisen« angesichts von Arbeitsplätzen, von denen man nicht leben kann, die einem Kraft, Zeit und Nerven rauben und um deren Erhalt man sich auch noch Sorgen machen soll? Um gesundheitliche und mentale »Krisen«, verursacht durch den Dauerstress der Konkurrenz in Schule, Ausbildung, Job, die zunehmende Umweltbelastung und den vergeblichen Versuch, trotz Zeit- und Geldmangel ein gelungenes Leben zu führen?
Wenn in der Öffentlichkeit von »Krisen« geredet wird, sind solche Härten eher nicht gemeint. Diese gelten vielmehr als »normal« und gehören zum Alltag, insbesondere in den Erfolgsphasen der Nation. Wenn hierzulande von Krisen die Rede ist, handelt es sich um die Krise der Zwecke, die in dieser Gesellschaft Geltung beanspruchen dürfen. Krise herrscht, wenn die Interessen der Herrschenden nicht mehr wie gewohnt aufgehen. Das gilt für die deutsche Wirtschaft und ihre aktuellen Bilanzen und das gilt für staatliche Ansprüche wie den, dass die Opfer des deutschen Kapitalismus und der westlichen Kriege an der »Festung Europa« abprallen müssen. Wenn das nicht funktioniert und es zu viele über die deutschen Grenzen schaffen, statt zu ertrinken, in die Sahara zurückgeschoben zu werden oder in den Mittelmeerländern zu verrotten, ist von einer Flüchtlingskrise die Rede…  
Wirtschaftskrise meint also nicht das regelmäßige Scheitern der lohnabhängig Beschäftigten und Flüchtlingskrise meint nicht die Krise der Leute, die in ihrer Heimat nicht mehr leben können. Krise ist dann, wenn die Ansprüche des Kapitals bzw. des Staates nicht erfolgreich aufgehen. In dieser Hinsicht können wir feststellen, dass sich die deutsche Nation in der Tat in einer ernsthaften Krise befindet. Der einstige deutsche Erfolgsweg als Exportnation stößt gerade an einige Schranken – an denen die deutsche Politik mit ihrer Sanktionspolitik gegenüber Russland und China nicht unbeteiligt war. Dieser letzte Umstand sollte übrigens Leuten zu denken geben, die sich vorstellen, dass die großen Konzerne das Sagen haben und die Regierung lediglich deren Erfüllungsgehilfe ist. 

Was bedeutet das für Deutschland?

Die deutsche Regierung hat bereits seit geraumer Zeit – nicht erst seit Beginn des Ukraine-Kriegs – beschlossen, dass das große Defizit, unter dem Deutschland leidet, seine fehlende weltweite Durchsetzungsfähigkeit ist. Aus den »Trump«-Jahren haben die führenden Politiker geschlossen, dass die Nation sich nicht mehr auf den amerikanischen Freund verlassen kann. Auf der Basis, dass die USA die Weltordnung militärisch abgesichert haben, konnte die deutsche Wirtschaft ihre Geschäfte machen, ohne für die militärischen Kosten, die nötig sind, um auf dem gesamten Planeten die entsprechenden Gewaltmittel zu unterhalten, aufzukommen. Das ist vorbei – Trump hat das seinen deutschen Kollegen deutlich gemacht. Insofern stand die prinzipielle Notwendigkeit einer deutschen bzw. deutsch-europäischen Aufrüstung bereits fest. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat Olaf Scholz den Anlass für die »Zeitenwende« gegeben und seitdem orientiert die deutsche Politik offensiv darauf, das Land auf allen Ebenen kriegstüchtig zu machen – was laut Verteidigungsminister Pistorius 2029 der Fall sein soll. Diese Ankündigungen der deutschen Regierung sollte man als das nehmen, was sie sind: Die nationale Führung spricht damit aus, dass sie die Feinde ausgemacht hat, gegen die sie ihre Armee (sprich: ihre Bevölkerung) in Stellung bringen wird. Soll bloß keiner später sagen, dass man »das alles« nicht gewusst habe. 

Wie bekommen wir diese Veränderung zu spüren? 

Na, unser schönes Leben im Kapitalismus wird noch ein bisschen schöner. Die Waffen für die Ukraine und die Aufrüstung der Bundeswehr müssen schließlich bezahlt werden; im Verbund mit den Folgen der aggressiven Sanktionspolitik kriegen das schon jetzt alle zu spüren, auch wenn einiges dafür getan wird, dass sich die Unzufriedenheit bis jetzt in Grenzen hält.
Parallel dazu wird auf allen Ebenen für die unbedingte Notwendigkeit der Militarisierung mobilisiert – in Schulen, den Medien, den Unis. Die Politiker wissen sehr genau, dass die »harten Zeiten«, die sie der Bevölkerung einbrocken werden, auf loyales Mitmachen angewiesen sind.  

Du hast ein Buch über die Rolle der Medien bei der Herstellung von Kriegstüchtigkeit geschrieben. Wie agieren die Medien im Verhältnis zum Staat? 

Schon in sogenannten »normalen Zeiten« sorgen die Leitmedien mit ihrer politischen Berichterstattung zuverlässig dafür, dass die Bevölkerung die Ereignisse im In- und Ausland aus der nationalen Perspektive wahrnimmt. Das tun sie nicht, weil sie zensiert oder bestochen werden, sondern freiwillig: Journalisten sind die professionell um den Erfolg Deutschlands besorgten ideellen Gesamtnationalisten. In Zeiten von Krise und Krieg stellen sie sich aus eigenem Antrieb der nationalen Aufgabe, die Bevölkerung aus ihrem „pazifistischen Wolkenkuckucksheim“ rauszuholen – so die Redaktion des Spiegels. Beim Schüren von Feindbildern oder beim Fordern von mehr Waffenlieferungen gehen die Medien nicht selten sogar voran.

Welche Rolle kann eine marxistische Analyse hierbei spielen und wie kann man sich dagegen wehren? 

Sie kann Klarheit über die Interessen der kapitalistischen Nationen und ihrer Konkurrenz schaffen: Begreifen statt Partei ergreifen. Bei der Durchsetzung ihrer Anliegen sind die Regierenden darauf angewiesen, dass ihr Volk die damit verbundenen Härten akzeptiert. Entsprechend unnachgiebig bestehen sie auf den nationalen „Narrativen“, in denen „Wir“ – wie es der Zufall will – die Guten sind und die Gegner und Konkurrenten als die grundlos und abgrundtief Bösen daherkommen. Politik und Medien diese Darstellung nicht abzunehmen bzw. zu versauen, wäre schon was.

Renate Dillmann ist freiberufliche Journalistin und Lehrbeauftragte an der EVH in Bochum. Bisherige Bücher: China – ein Lehrstück, Der soziale Staat (mit Arian Schiffer-Nasserie), Abweichendes zum Ukraine-Krieg. Präsent beim Podcast 99 zu 1 mit der Serie „Der real existierende Wahnsinn“ und anderem.