10 Mai Bildung muss unabhängig vom Geldbeutel der Eltern sein
Carolin Butterwegge ist Soziologin und Spitzenkandidatin für DIE LINKE bei der Landtagswahl in NRW. Wir haben uns mit ihr über Armut in Deutschland und die Auswirkung auf das Bildungssystem unterhalten.
Frau Butterwegge, was ist eigentlich Armut?
Im Alltagsverständnis bedeutet Armut, dass man zu wenig Geld hat. Auf wissenschaftlicher Ebene ist man sich weniger einig. Da wird u.a. mit den Begriffen absolute und relative Armut gearbeitet.
Absolute Armutist das fehlende, physische Existenzminimum, bei dem die Grundbedürfnisse Betroffener nicht gesichert sind. Davon spricht man eher in Bezug auf südliche Länder – was falsch ist, weil es das auch in Deutschland gibt. Als relativ arm oder auch armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des Medians des Nettoäquivalenzeinkommens erzielt, wobei sozialpolitisch die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums im Vordergrund steht.
Wie steht es mit der Kinderarmut in NRW und Deutschland?
Fast. 700.000 Kinder und Jugendliche in NRW leben in armutsgefährdeten Familien, was rund 23 Prozent entspricht. Fast ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen sind somit von relativer Armut betroffen.
Wenn man sich ganz Deutschland anschaut, hatten die ostdeutschen Länder früher eine viel höhere Kinderarmutsquote als die alten Bundesländer. Allerdings ist diese dort sukzessive zurückgegangen, während sie in manchen westdeutschen Ländern angestiegen ist. Zuletzt lag die Quote inSachsen-Anhalt bei 27 Prozent, in NRW bei 25 und in Niedersachen bei 23 Prozent. In Bayern oder Baden-Württemberg sind gerade 13 bis 14 Prozent betroffen. Die Kluft wird hier immer größer.
Wie wirkt sich die Kinderarmut an Schulen aus?
Für die betroffenen Kinder besteht ein höheres Risiko, aufgrund ihrer Herkunft früher aussortiert zu werden und einen geringeren Schulabschluss bzw. seltener das Abitur zu erreichen. Wichtig ist, zu fragen, wie die Institution Schule mit Kinderarmut umgehen kann. Wie können die Beschäftigten sensibilisiert werden? An den Schulen, wo sich Kinderarmut konzentriert, muss es mehr Personal, kleinere Klassen, vielfältige Förder- und Unterstützungsangebote geben.
Wie gestaltet sich das an den Hochschulen?
Dort geht der Selektionsprozess weiter. Die soziale Herkunft schränkt die jungen Erwachsenen schon beim Erreichen höherer Schulabschlüsse ein. Als Arbeiterkind oder Studierende*r in erster Generation gibt es eine höhere Wahrscheinlichkeit, das Studium abzubrechen oder keinen Masterplatz zu bekommen. Ansatzpunkte wären hier Mentoring- oder Unterstützungsprogramme.
Was fordert DIE (NRW-)LINKE in diesem Bereich?
Wir wollen ausreichend Studienplätze für alle sichern und die Anwesenheitspflicht dauerhaft abschaffen. Weiterhin sollte der Studienzugang nicht durch NCs oder intransparente Auswahlgespräche beschränkt werden.
Die Studienfinanzierung spielt eine riesige Rolle. Das Studium muss unabhängig vom Geldbeutel der Eltern sein. Im Bereich BAföG müsste viel passieren. Und auch bei den Wohnheimplätzen, in die über ein Sonderprogramm des Landes investiert werden könnte. Außerdem ist ein wichtiger Punkt,die Abschaffung des Faches Sozialwissenschaften in der Lehrerausbildung rückgängig zu machen.
In den Städten und Gemeinden sollte es kommunale Aktionspläne gegen Kinderarmut geben, die besonders problematische Gebiete in den Blick nehmen,, in denen viele Kinder und Jugendliche in Armut aufwachsen. Gerade die soziale Infrastruktur – KiTas, Schulen, Jugendzentren, Beratungsstellen, Spielplätze bis hin zu kulturellen Angeboten – muss hier ausgebaut werden.
Was muss sich noch ändern, um Unterschiede aufgrund der sozialen Herkunft im Bildungssystem auszugleichen?
Bildung muss von der KiTa bis zur Hochschule gebührenfrei sein, mit echter Lernmittelfreiheit. Schüler*innen müssen mit digitalen Endgeräten ausgestattet werden. Außerdem gibt es noch immer Studiengebühren für ausländische Studierende – wir fordern diese abzuschaffen!
Schulformen des gemeinschaftlichen Lernens, wie Gesamtschulen und inklusive Ganztagsschulen sollten ausgebaut werden. Es muss mehr Personal für kleinere Klassen geben. Alle Schüler*innen müssen im Ganztag, ohne Hausaufgaben, arbeiten können. Das nimmt Druck von den Elternhäusern, die gerade während Corona mehr eingespannt wurden.
Zuletzt bedarf es höherer Bildungsausgaben. NRW bildet das bundesweite Schlusslicht bei den pro-Kopf-Ausgaben je Schüler/in. Zu Weihnachten haben die Grundschulen weiße Flaggen gehisst, weil sie stark unterfinanziert sind. Es muss mehr Geld für Personal, Gebäude und Ausstattung geben. Deswegen: Am 15. Mai in NRW DIE LINKE wählen!
Frau Butterwegge, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Darian Nöhre.
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Semesterausgabe – critica Nr. 28