Eisschmelze in der Arktis: Kipppunkt erreicht?

Eisschmelze in der Arktis: Kipppunkt erreicht?

Neue Satellitenaufnahmen zeigen Anzeichen einer Erwärmungsspirale, die die ganze Welt bedroht. Große Medienberichterstattung? Fehlanzeige. Und die Ampel-Regierung macht Rückschritte im Klimaschutz.

Am 01. Juli 2022 postete der Klima-Wissenschaftler Zachary Labe auf seinem Twitter-Account eine Aufnahme des Sentinel-2-Satelliten und schrieb dazu: „Als Reaktion auf die jüngsten Wetterbedingungen sind in Teilen der Beaufortsee (#Arktis, nördlich von Alaska) ausgedehnte Schmelztümpel zu sehen […].“

Das Schmelzen des Arktis-Eises ist einer der sogenannten Klima-Kipppunkte oder Tipping Points. Stellt euch ein Glas Wasser vor, das ihr auf eine Tischkante stellt und es immer weiter kippt. Ab einem gewissen Punkt ist das Fallen des Glases nicht mehr aufzuhalten: Der Kipppunkt ist überschritten. Wird einer der Klima-Kipppunkte überschritten, sind die Folgen jedoch dramatischer als ein nasser Teppich.

Rückkoppelung mit unabsehbaren Auswirkungen

Die Temperaturen in der Arktis steigen deutlich schneller als der globale Mittelwert. Damit nimmt die Ausdehnung des Eises in der Arktis seit Jahrzehnten deutlich ab. Im Sommer liegt die Abnahme bei durchschnittlich 7% in 10 Jahren. Durch diese Abnahme entstehen die Löcher in der Eisdecke, über die der Klimawissenschaftler Labe twitterte.

Die Löcher zeigen, dass wir schon bald diesen Tipping Point erreichen oder bereits überschritten haben: Das Meereis der Arktis wird Berichten des IPCC (Weltklimarats) zufolge in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts in den Spätsommermonaten fast vollständig verschwunden sein.

Der Kipppunkt, der damit droht, ist die Eis-Albedo-Rückkopplung. Albedo bezeichnet das Rückstrahlungsvermögen von Sonnenlicht. Das Rückstrahlungsvermögen des Eises in der Arktis nimmt ab, wenn das Eis schmilzt und die Eisoberfläche sich verringert. Wird weniger Sonnenlicht zurückgestrahlt, heizen sich das Meer und die Erdatmosphäre weiter auf. Es kommt zu einer Rückkopplung: das Eis der Arktis schmilzt schneller und die Atmosphäre heizt sich weiter auf, womit das Eis nur noch schneller schmilzt.

Die Auswirkungen der Überschreitung dieses Kipppunktes sind nicht absehbar. Eine wissenschaftliche Studie untersuchte 2008, wie sensitiv die Prozesse, die mit den Klima-Kipppunkten zusammenhängen, auf die Erderwärmung reagieren. Für das Schmelzen des Arktis-Eises wurde eine hohe Sensitivität ermittelt. Dafür sei die physikalische Grundlage wiederum sehr fest, es herrsche dazu nur eine geringe Unsicherheit. Die Auswirkungen könnten weit über die Arktis hinaus spürbar werden.

Dramatische Auswirkungen, fehlende Aufmerksamkeit

Allein in den letzten zwei Wochen sind die Auswirkungen der Klimakrise deutlich zutage getreten: Hochwasser in Australien und in Südasien, Waldbrände in Südeuropa, Temperaturprognosen von bis zu 45°C für Mitteleuropa, eine beispiellose Dürreperiode in zahlreichen Ländern, wie z.B. Madagaskar.

Diese dramatischen Auswirkungen erhalten jedoch häufig nicht die mediale Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Sucht man beispielsweise nach Artikeln zur Eisschmelze in der Arktis, finden sich aktuell hauptsächlich Beiträge dazu, dass nun „ökologischere Schiffswege“ frei werden und dazu, wie sie den russischen Handel beeinflusst. Kaum ein Wort zu den Auswirkungen, die das Überschreiten dieses Kipppunktes auf die Einwohner*innen und die Tierwelt der Arktis haben kann, noch zum Effekt auf das globale Klima. Auch in Form von Umweltkatastrophen auf dem Rest der Erde.

In Europa gibt es Rückschritte im Klimaschutz

Es ist seit Jahrzehnten Zeit zu handeln, jedoch passiert trotz aller Warnungen viel zu wenig. Drastischere Klimaänderungen als die heute bereits sichtbaren, können nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand verhindert werden, wenn die Erderwärmung auf unter 2°C begrenzt wird.

Dafür muss der Zuwachs der globalen Treibhausgas-Emissionen so schnell wie möglich gestoppt werden. Laut Bundesumweltamt liegt das größte Einsparpotential darin, die Emissionen im Verkehrssektor und bei der Erzeugung von Strom und Gas zu reduzieren. Das wird zum einen durch allgemeines Einsparen von Energie sowie eine Effizienzsteigerung und zum anderen durch einen Brennstoffwechsel möglich. Der Brennstoffwechsel meint das Ersetzen fossiler Energieträger mit erneuerbaren Energien. Für den Brennstoffwechsel müssen die Regierungen jedoch deutlich stärkere Anreize setzen.

Was stattdessen passiert sehen wir aktuell sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene: nämlich das Gegenteil vom Setzen der Anreize für den Einsatz erneuerbarer Energien.

In Deutschland wird per Gesetz der Bau von Terminals für den Import von Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, kurz LNG) vorangetrieben und vereinfacht. Das Gesetz gilt nicht nur für reversible, schwimmende Terminals, sondern auch für bis zu acht festen Terminals, die den Klimazielen diametral entgegenstehen. Diese sollen eine Energieversorgung ohne Erdgas aus Russland sichern. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt aber die Errichtung fester Terminals als „nicht sinnvoll“ ein.

Der Climate Action Tracker bewertete am 1. Juni die Klimapolitik der deutschen Regierung als mangelhaft und kritisiert besonders die Pläne zur Errichtung von LNG-Terminals. Auf dem G7-Gipfel Ende Juni ging es dann – trotz mündlichem Bekenntnis zum Klimaschutz – ebenfalls um LNG-Förderung und die Erschließung neuer Gasfelder im Senegal.

Auf EU-Ebene gibt es ebenfalls Rückschritte im Klimaschutz: Statt erneuerbare Energien deutlich zu subventionieren und Energie einzusparen, beschloss das europäische Parlament in der vergangenen Woche, dass Investitionen in Atomkraft und Erdgas im Rahmen der EU-Taxonomie unter bestimmten Voraussetzungen als nachhaltig eingestuft werden können. Anstelle von klimaneutralen, nachhaltigen Projekten, könnten Gelder privater Investor*innen ab Januar 2023 in fossile Energieträger investiert werden.

Das Glas ist dabei zu kippen. Die Regierungen der EU-Länder, inklusive der deutschen Ampel-Koalition, schieben das Glas immer weiter auf den Kipppunkt zu, obwohl die Auswirkungen des Treibhausgasausstoßes immer deutlicher werden. Wir müssen dagegenhalten und mit einer sozial-ökologischen Wende endlich ein Erreichen der Kipppunkte verhindern.

Lena-Johanna Schmidt (25) ist seit 2019 in DIE LINKE Gießen aktiv. Ziel ihrer politischen Arbeit ist der sozial-ökologische Umbau unserer Gesellschaft.

Bildquelle: Zachary Labe, Twitter