23 Jan Von Spargelstechen und antislawischem Rassismus
Antislawismus hat in Deutschland Geschichte und wird auch nach dem Krieg in der Ukraine ein Problem bleiben. Rita erklärt warum.
Februar 2022: Die ganze Welt schaut nach Osteuropa. Russland startet einen schrecklichen Angriffskrieg gegen die Ukraine und das Leiden zahlreicher Ukrainer*innen löst eine Solidaritätswelle in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern aus. Als Solidaritätsbekundung sieht man die Ukraine-Flagge dieser Tage nahezu überall: Auf der Straße, hinter Fenstern, in Twitter-Nutzernamen. Diese oft rein symbolische Solidarität westlicher Länder ist nicht selbstverständlich, bringt sie doch doppelte moralische Standards mit sich, die nicht ignoriert werden dürfen.
Wenn uns die Geschichte der Länder des »Westens« eines gezeigt hat, dann dass ihre Solidarität höchst selektiv ist. Das hat mit einem tiefsitzenden und kolonial geprägten Rassismus zu tun, der auch heute noch zu spüren ist.
Jedes Jahr reisen Hunderttausende Saisonarbeiter*innen aus Rumänien, Bulgarien oder Polen nach Deutschland, um hier systematisch ausgebeutet zu werden. Osteuropäische Saisonarbeiter*innen werden nicht nur schlecht bezahlt, sondern müssen davon auch noch eine Container-Unterkunft finanzieren. Seit der Corona-Pandemie befindet sich die Landwirtschaft in Deutschland in einer Krise, denn viele deutsche Arbeitskräfte »sind die harte Arbeit auf dem Spargelfeld nicht gewöhnt« (BNN, 24. Juli 2020) und die Zahl der osteuropäischen Arbeiter*innen, die bereit sind, für die Saison nach Deutschland zu kommen, sinkt.
Für die Landwirtschaft, die hierzulande maßgeblich von Saisonarbeiter*innen mitgetragen wird, stellt das eine bedrohliche Situation dar, die sich so auch in anderen Sektoren wiederfinden lässt: Deutsche Krankenhäuser, die private Pflege, die Fleischindustrie und Reinigungsdienstleister werden allesamt von Migrant*innen am Laufen gehalten. Besonders auf den Pflegesektor lohnt sich ein genauerer Blick:
Der demographische Wandel stellt unsere Gesellschaft vor die große Herausforderung, immer mehr Pflegebedürftige mit weniger verfügbarer Arbeitskraft versorgen zu müssen. Statt das Pflegesystem zu reformieren, wurden weite Teile der Pflege auf Familienangehörige und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland abgewälzt. Der Niedriglohnsektor im Pflegesystem ist dadurch stark vergeschlechtlicht und migrantisch geprägt. Auch werden Pflegekräfte – insbesondere Frauen aus Osteuropa – prekär in Privathaushalten beschäftigt; teils ohne Arbeitsvertrag und oft rund um die Uhr. Die »Polin« wurde zum Synonym einer migrantischen Pflegerin, die rund um die Uhr Pflegebedürftige im Privathaushalt versorgt.
Die Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte in Deutschland hat Kontinuität. Die Wurzeln liegen im Antislawismus des Deutschen Kaiserreiches.
Eine kurze Geschichte des Antislawismus
Die Abgrenzung von osteuropäischen Kulturen begann im 19. Jahrhundert mit der Entstehung des »Slawentums« als Sprach- und Kulturraum. Trotz räumlicher Nähe zum westlichen Europa wurde die Vorstellung eines rückständigen Osteuropas geprägt, das sich vom zivilisierten Westeuropa unterscheidet.
Die Herausbildung des mitteleuropäischen Deutschnationalismus als Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte die Abgrenzung gegenüber dem »Slawentum«, das man als Bedrohung für die »Volkstumsgrenzen« sah.
Das Label des »Slawentums« erfüllte dabei den Zweck der Identifikation eines gemeinsamen Feindes, dem es entgegenzutreten galt; ein Dachbegriff für mehrere osteuropäische Kulturen. Im Deutschen Reich lässt sich eine antislawische Ausrichtung bis in die obersten Regierungskreise feststellen: Reichskanzler Otto von Bismarck sprach von einer »krebsartig um sich fressenden Polonisierung« und von der Unfähigkeit slawischer Nationalitäten zur eigenen Staatlichkeit.
Mit dem Überfall auf Osteuropa 1941 als Teil des nationalsozialistischen »Generalplans Ost«, war eine »Germanisierung« Osteuropas verbunden, die unter anderem zur Entstehung der sogenannten »Ostarbeiter« führte, die völlig entrechtet waren. Erst vor zwei Jahren fand die Anerkennung der slawischen Opfer des Nationalsozialismus durch den deutschen Bundestag statt.
Weiß genug für den Niedriglohnsektor
In der Rassismusforschung und im politischen Diskurs ist Antislawismus jedoch nach wie vor nur eine Randerscheinung und die Debatte darum wird in Europa größtenteils unverändert aus dem nordamerikanischen Raum übernommen. Das verzerrt die Sicht der Dinge, denn unter »migrantisierten und rassifizierten Gruppen« muss man in Europa ein deutlich breiteres Spektrum der Gesellschaft verstehen. So wirft schon die Debatte um europäische BIPoC zunächst die Frage auf: Gelten Osteuropäer*innen als People of Color oder als Weiße?
Wie flexibel die Kategorisierung der Osteuropäer*innen im Westen funktioniert, zeigte sich nicht nur im Nationalsozialismus, sondern ist auch heute noch erkennbar. Überspitzt formuliert: Osteuropäer*innen sind weiß genug, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu arbeiten – gerade im informellen Pflegesektor spielt die Hautfarbe eine Rolle –, nicht aber weiß genug, um einen Mindestlohn oder gute Arbeitsbedingungen zu erhalten. Bis heute gelten Osteuropäer*innen als minderwertige Arbeitskräfte im Westen, die, wie bereits ausgeführt, als billige Erntehelfer*innen, Pflege- und Reinigungskräfte prekär beschäftigt werden. Die Ausbeutung der osteuropäischen Arbeiter*innen wird dabei mit Stereotypen wie »belastbar« aber »rückständig« gerechtfertigt.
Zu Beginn des Ukraine-Kriegs wurden Ukrainer*innen über Nacht zu Europäer*innen. Doch wenige Monate später war klar, dass ukrainische Geflüchtete vor allem in der Bau-, Logistik- und Reinigungsbranche sowie von Lieferdiensten ausgebeutet werden. So wird die Tatsache, dass sie noch nicht die notwendigen Sprachkenntnisse besitzen, ihre Rechte nicht kennen und gleichzeitig unter Druck stehen, Geld zu verdienen, ausgenutzt.
Ob durch Scheinselbstständigkeit oder durch ausländische Arbeitsverträge, ukrainische Menschen werden in Deutschland ausgebeutet. Es wird also höchste Zeit bei Arbeiter*innenkämpfen osteuropäische Arbeitskräfte mitzudenken und auch ihre Rassismuserfahrungen anzuerkennen.
Rita Kavali studiert Kulturgeographie an der FAU Erlangen-Nürnberg und wünscht sich einen Antirassismus, der für hiesige Zustände angemessen ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst in kürzerer Form in der critica Nr. 29. Du erhältst sie beim SDS in deiner Stadt oder kannst sie hier online lesen.