Mehr als nur »Kopftuch-Proteste« – Gewalt und Unterdrückung im Iran

Mehr als nur »Kopftuch-Proteste« – Gewalt und Unterdrückung im Iran

Hinter den Aufständen im Iran steht viel mehr als sich durch solche Titel wie »Kopftuch-Proteste« vermuten lässt. Die Tötung von Jîna Amini, die sie ausgelöst hat, reiht sich ein in eine Historie der staatlichen Repression und Gewalt.

Die Tötung der Kurdin Jîna (Mahsa) Amini durch die Sittenpolizei des iranischen Regimes war der letzte Zündfunken, der die Unzufriedenheit mit den Machthabenden im Iran zum Explodieren brachte. Ausgehend von den national unterdrückten kurdischen Gebieten entfaltete sich ein Lauffeuer, das die Mullah-Diktatur bis heute grundsätzlich infrage stellt. Unter den oberflächlich politischen Fragen von gesetzlich festgeschriebener Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen und den nationalen Minderheiten brennt darüber hinaus die soziale Frage. 

Revolutionäre Arbeiter*innenbewegung an der Spitze der Proteste im Iran

Bereits 2019 wurde eine Protestwelle gegen das iranische Regime brutal niedergeschlagen. Von Donald Trump verhängten Wirtschaftssanktionen und Handelsembargos, die Corona-Pandemie und die Inflation haben die Massenverarmung im Iran bis zum Siedepunkt verschärft. Frauen im Iran trafen die Entlassungen im ersten Pandemie-Jahr bei ohnehin schon geringem Beschäftigungsanteil doppelt so stark wie Männer. Im Folgejahr stiegen zudem Arbeitskämpfe und regelmäßige Streiks in einem volkswirtschaftlichen Stützpfeiler des Irans, dem Ölsektor. Gegen die gefälschten Wahlen von Ebrahim Raisi als Staatsoberhaupt des Iran entstand eine politische Boykottkampagne. 

Von Jînas Heimatstadt Saqqez, dessen Bevölkerung mehrheitlich der Arbeiter*innenklasse angehört, breiteten sich die Proteste im gesamten iranischen Staatsgebiet aus. Zum Beistand der aktuellen Demonstrationen werden die Proteste in weiten Teilen des Landes durch die Streiks der Arbeiter*innen in der Petrochemie und den Zuckerrohrfabriken unterstützt. Als Teil der Islamischen Revolution im Jahr 1979 wurde die iranische Linke und die Arbeiter*innenbewegung, die gegen den Schah und seine Diktatur schon lange protestierte, von Ajatollah Chomeini instrumentalisiert und sich ihrer dann in Säuberungs- und Hinrichtungswellen entledigt. Nach fast zwanzig Jahren des Terrors und des Schweigens (1979-1999), in denen die kapitalistischen und neoliberalen Interessen der iranischen Regierenden voranschreiten konnten, ohne auf Widerstand zu stoßen, begann es neue Aufstände zu geben. Spätestens seit dem Jahr 2010 ist der Klassenkampf militanter sowie organisierter geworden. 

Die Beschäftigten haben trotz der gesetzlichen Hürden und der politischen Repression gegen Tarifverhandlungen parallel unabhängige Gewerkschaftsorganisationen gegründet, die den staatlich geförderten Gewerkschaften Konkurrenz machen. Massive staatliche Repressionen gegen nicht staatliche Gewerkschaften zwingen diese in den Untergrund. Aber die Arbeiter*innenklasse ist in der Geschichte des modernen Iran noch nie so organisiert und aktiv gewesen, wie sie es heute ist. Dies beschränkt sich nicht nur auf Arbeiter*innen, die Forderungen bezüglich ihrer Arbeitsstelle stellen. Die Protestbewegung dominieren vor allem junge Frauen, die absolut und systematisch im Iran entrechtet werden und Gewalt erfahren. Das Regime ist sich darüber im Klaren, dass eine Vereinigung von Protestierenden und Arbeiter*innen die ohnehin schon außerordentlichen Proteste seit dem Tod von Jîna abermals verstärken würde. 

Die jüngst ausgebrochenen Aufstände stellen alles Vergangene in den Schatten: Landesweit wehren sich Menschenmassen in Städten, Dörfern, Gemeinden und Universitäten mit Protestmärschen, Straßengefechten und -blockaden gegen die Regimekräfte und stellen ihre unterdrückerische Herrschaft infrage. Hunderte wurden infolge der Repressionen inhaftiert, gefoltert und getötet, doch die Protestbewegung lebt weiter. Lehrkräfte, Tankwagenfahrer*innen, kleine Ladenbesitzer*innen und Industriearbeiter*innen in der Ölraffinerie, Petrochemie und den Zuckerrohrfabriken wurden von der Bewegung zu mehrtägigen Streiks inspiriert. Auch wenn sich die Aktionen noch nicht auf einen Großteil der Belegschaft ausweiten konnten, liegt in der Verbindung der Arbeitsstreiks mit den politischen Forderungen der Straßenbewegung eine Perspektive. Die iranische Bevölkerung hat allen Grund und jedes Recht, gegen ihr Regime aufzubegehren.

Wer über Iran spricht, darf nicht über Kurdistan schweigen!

Jîna (Mahsa) Aminis kurdische Identität und die strukturelle Unterdrückung von Kurd*innen im Iran nimmt eine zentrale Rolle in den Protestbewegungen ein. Der Widerstand gegen das iranische Regime ist in kurdischen Gebieten besonders groß, die landesweiten Proteste begannen in Jînas Heimatstadt Saqqez und breiteten sich daraufhin im ganzen Iran aus. Dementsprechend gewaltvoll sind die Repressionen des iranischen Regimes gegen Proteste von Kurd*innen. Mit der Begründung, die kurdischen Parteien seien schuld an den Aufständen, rechtfertigt das Regime die zahlreichen Angriffe auf Stützpunkte kurdischer Parteien und zivile Ziele in Ostkurdistan. In Mahabad kam es zu besonders massiver Gewalt seitens der iranischen Polizei- und Einsatzkräfte, die dort aus Militärkonvois wahllos auf Protestierende geschossen haben. Auch aus weiteren Städten Irans wird von Massakern an der kurdischen Bevölkerung und sexualisierter Gewalt und Folter durch iranische Sicherheitskräfte berichtet. Die gewaltsamen Repressionen sind nicht unabhängig von dem jahrzehntelangen Freiheitskampf von Kurd*innen zu betrachten, die bereits vor der Islamischen Revolution 1979 linke und sozialistische Organisationen gründeten. Kurz nach der Revolution 1979 boykottierten Kurd*innen ein Referendum über eine neue Verfassung, die die islamische Republik als Staatsform konstituieren sollte. Kurd*innen wurden als gesellschaftliche Minderheit systematisch von Gesetzen ausgeschlossen und organisierten als Reaktion auf militärische Repressionen mehrere Generalstreiks, um ihre politische Selbstbestimmung einzufordern.

Die Parole »Jin, Jiyan, Azadî«, die zum Leitspruch der Proteste geworden ist, hat ihren Ursprung in der revolutionären kurdischen Frauen- und Freiheitsbewegung in den 80er-Jahren und wurde z.B. von Kämpfer*innen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ in Rojava gegen den IS genutzt. »Jin, Jiyan, Azadî!« steht nicht nur für den Kampf für das gute Leben für Arbeiter*innen und Arme und gegen staatliche Repressionen, stellt aber auch das Thema Sexismus und Gewalt gegen Frauen in den Vordergrund. In den westlichen Medien ist die Darstellung der Unterdrückung der Frauen durch patriarchale und autokratische Kräfte im Iran sehr verkürzt. Oft kreist die Debatte um den Zwang ein Kopftuch zu tragen, selten jedoch über die systematische Einschränkung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Frauen und queeren Personen, Misshandlungen, exzessive Anwendung der Todesstrafe und brutale Gewalt gegen jegliche Proteste, insbesondere in kurdischen Gebieten. So kamen seit den jüngsten Protesten über 300 Menschen ums Leben. Etwa 15.000 Menschen wurden eingesperrt, denen bei Verurteilung die Todesstrafe droht. Darüber hinaus werden unverheiratete Frauen vor der Hinrichtung zwangsverheiratet und vergewaltigt, um sie zu entehren. Die Mullahs verfolgen die gleiche Strategie wie bei vergangenen revolutionären Aufbrüchen im Iran: es versucht in einer brutalen Konterrevolution Blut mit Blut abzuwaschen.

Internationale radikale Solidarität mit den kurdischen Aufständen bedeutet die Anerkennung langjähriger revolutionärer Widerstandsbewegungen von Kurd*innen und der Einsatz gegen die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei und anderen Akteuren auf kurdische Gebiete. Zudem muss sich gegen jede Kriminalisierung von kurdischen Parteien, wie die PKK, gestellt werden, um den Aufbau eines demokratisch freiheitlichen Projekts zu unterstützen.

Mehr als »Kopftuch-Proteste«: Islamfeindlichkeit ist keine Solidarität! 

In Teilen der deutschen Presselandschaft wird die Welle der Revolte im Iran, in den kurdischen und weiteren Gebieten, als Kopftuch-Protest bezeichnet. Das greift angesichts dieser Entwicklungen viel zu kurz. Der gesetzliche Kopftuchzwang und die Gewalt der Sittenpolizei im Auftrag des iranischen Regimes entwickelte sich zum Katalysator, dessen repressive Herrschaft bis in die Grundfeste infrage zu stellen und weit über diese Forderung hinauszugehen. Darstellungen, die die islamische Religion zur Ursache aller Unterdrückung im Iran erklären, bieten weder eine Erklärung noch eine Perspektive. Jeglicher staatliche Zwang – ob zum An- oder Ausziehen des Kopftuches – ist von links zu bekämpfen. Die Demonstrationen für den Iran in einem Land wie Deutschland, in dem antimuslimischer Rassismus vorherrschend ist, dürfen daher nicht islamfeindlichen Hetzer*innen überlassen werden. Das gilt ebenso für die auch in Deutschland lebenden Sympathisant*innen der ehemaligen Schah-Monarchie, deren Errichtung, durch einen 1953 vom CIA und MI6 unterstützten Militärputsch gegen eine säkulare Demokratie unter Mossadegh, und jahrelange Terrorherrschaft die Mullahs unter Khomeini für Teile der iranischen Bevölkerung überhaupt erst als »das kleinere Übel« erscheinen lassen hat.

Gegen jede imperialistische Instrumentalisierung!

Rufen nach Krieg und NATO-Überfällen auf den Iran sind wie jeder anderen imperialistischen Aggression im Interesse von Großmächten aufs Entschiedenste zu widersprechen. Selbst das US-amerikanische Zentrum für Menschenrechte im Iran ist deutlich in seiner »expliziten Opposition gegen jegliche interventionistische und militärische Aktionen gegen den Iran«. Sanktionen haben der Zivilbevölkerung, insbesondere oppositionellen Frauenrechtler*innen im Iran, laut über 170 iranischen Frauenaktivist*innen schweren Schaden zugefügt. Eine Verschärfung der Sanktionen schwächt die iranische Bewegung gegen das eigene Regime. Sogar die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) muss zum historischen Scheitern von Sanktionen zugunsten gesellschaftspolitischer Veränderung konstatieren: »Stattdessen provozieren Sanktionen häufig Verhaltensänderungen in die entgegengesetzte Richtung und erzeugen eine Wagenburgmentalität aufseiten des Empfängers. Diese spielt wiederum den politisch Verantwortlichen in die Hände, denen sich Sanktionen als willkommener Sündenbock anbieten, um vom eigenen wirtschaftlichen Missmanagement abzulenken. Anstatt Massenproteste auszulösen, die vielleicht zu einem Regimewechsel führen könnten, stärken Sanktionen eher die Solidarität der Bevölkerung mit den jeweiligen Eliten.«

Die Heuchelei der Ampel-Koalition und ihrer Vereinnahmung des Protestslogans »Jin, Jiyan, Azadî!« (»Frau, Leben, Freiheit!«) hat sich spätestens dann mal wieder als Farce entpuppt, seitdem dieselbe Regierung den jüngsten Angriffskrieg der Türkei unter Erdoğan auf die in Syrien und Irak lebende kurdische Bevölkerung mitträgt, die diese Parole ins Leben gerufen hat. 

Unsere Solidarität und unser Internationalismus von unten bleiben unteilbar! 

Dieser Beitrag von Margarita Kavali, Solva Bergmann und Yaya Maha basiert auf einen Antrag, der auf dem 31. Bundeskongress des SDS (2.-4. Dezember 2022 in Frankfurt am Main) angenommen wurde.

Bildquelle: Taymaz Valley, flickr