25 Mai Ein unglücklicher Versprecher
Seit der Invasion Russlands in die Ukraine wird auch außerhalb des Kriegsgebietes rhetorisch aufgerüstet. Positionen werden verzerrt und verkürzt. Ein Kommentar.
Das Internet tobte, nachdem Annalena Baerbock bei einer Rede im Europaparlament proklamierte: »We are fighting a war against Russia«, und dabei der Atommacht Russland mal eben den Krieg erklärte. Leitmedien und Pressesprecher*innen der Regierung bagatellisieren die Aussage als Versprecher; wie sehr Deutschland tatsächlich in dem Krieg involviert ist, wird nicht ausgesprochen. Zu dem Zeitpunkt konnte noch niemand ahnen, dass in den nächsten Tagen die Lieferung der Leopard-2-Panzer angekündigt würde. Damit wurde die Sorge, der deutsche Staat könnte zur Kriegspartei werden, ein Stück weit bestätigt.
Laut dem herrschenden Narrativ hatte die bisherige Friedensordnung bis zum 24. Februar 2022 Bestand. Teil davon bildeten vermeintliche Friedensmissionen zur Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie. Waffengewalt war in den neuen Kriegen, die nicht immer als Kriege bezeichnet werden durften, eine leidige Begleiterscheinung, ebenso das Sterben von Zivilist*innen, zynisch betrauert als Kollateralschäden. Heute habe Putin den Krieg zurück in die Welt gebracht. Und der ganze Apparat ist wie auf Abruf bereit: Olaf Scholz läutete sogleich die Zeitenwende ein, Chefredakteure geben sich wie Waffennarren, Bundeswehrsoldaten sitzen in wöchentlichen Talkshows, Rüstungslobbyisten drängen die Regierung offen zu weiteren Waffenlieferungen. Der Krieg ist da und wir machen mit.
Missbrauch historischer Verantwortungen
Der Kriegstaumel der Herrschenden muss aber auch der breiten Bevölkerung schmackhaft gemacht werden. Der gerechte Krieg braucht einen neuen Anstrich. Ziel ist, davon zu überzeugen, dass an der Front in der Ukraine Menschen für die europäischen Werte sterben und gegen den russischen Diktator Putin kämpfen. Die Beteiligung am Krieg knüpft an ein Narrativ an, welches die historische Verantwortung Deutschlands, nie wieder Krieg zu führen, missbraucht. So erklärte Joschka Fischer 1999 basierend auf Lügen die Bombardierung Serbiens zur antifaschistischen Pflicht. Stoisch wird auch heute das Narrativ der Herrschenden von den Leitmedien gepredigt. Die Ukraine führe einen Verteidigungskrieg, wir ‒ wahlweise Deutschland, Europa oder die NATO ‒ stünden geschlossen hinter ihr. Waffen und Panzer, so der Westen, retteten ukrainische Leben und würden den Ukrainer*innen zum Sieg verhelfen. Bei aller Unterstützung wolle man dabei aber nicht als Kriegspartei erkannt werden.
Dass bei der geltenden Sprachregelung auch mal jemand aus der Reihe tanzt, lässt sich wohl kaum vermeiden. Der Verteidigungsminister Boris Pistorius wurde direkt gescholten, nachdem er verkündete, Deutschland sei indirekt am Krieg beteiligt. Nachdem alle roten Haltelinien der Scholzschen SPD gefallen sind, kippt der vorher zögerliche Kanzler immer weiter hin zur klaren Eskalation des Krieges. Jede Entscheidung wurde dabei von den Medien begrüßt oder zumindest abgenickt. Bei jedem Übertritt weiterer roter Haltelinien stehen Militärexpert*innen – wie Carlo Masala – bereit, um diese als Notwendigkeit zu präsentieren, und Völkerrechtsexpert*innen, um mit entsprechenden Auslegungen Bedenken vom Tisch zu kehren.
»Die Beteiligung am Krieg missbraucht das historische Narrativ, dass Deutschland nie wieder Krieg führen dürfte.«
Während neue Entwicklungen herausgelöst aus dem Gesamtzusammenhang von Expert*innen gerechtfertigt und verbogen werden, bleibt bei der Frage der Kriegsbeteiligung völlig verkannt, dass diese nicht nur an den Waffenlieferungen festzumachen ist. Es wird darüber geschwiegen, dass die Ausbildung ukrainischer Soldat*innen völkerrechtlich schon ein Kriegseintritt ist. Ebenso wenig wird thematisiert, dass nicht die ganze Welt geschlossen hinter der Beteiligung des Westens am Ukraine-Krieg steht. Insbesondere der globale Süden sieht die Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen gegen Russland kritisch.
Positionelle Abweichungen bleiben im medialen Diskurs entweder unterbelichtet, werden relativiert oder gezielt delegitimiert. Jeder, der sich nicht klar für eine militärische Beteiligung am Krieg und für die Sanktionen ausspricht oder gar eine diplomatische Lösung fordert, möchte die Ukraine ihrem Schicksal überlassen. Der neue Anstrich bröckelt – Annalena Baerbocks Freudscher Versprecher hat verbalisiert, was die Realität uns offen entgegenschreit: Deutschland befindet sich wieder in einem Stellvertreterkrieg ‒ dieses Mal mit einer Atommacht.
Ari und Hana, stolze Langzeit-Studentinnen aus Frankfurt am Main, schauen sich jeden Tag im Spiegel an und sagen: »Das ist ein mörderisches, kapitalistisches Weltsystem«.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der critica Nr. 30. Du erhältst sie beim SDS in deiner Stadt oder kannst sie hier online lesen.