10 Aug Nanni Moretti – Il sol dell’avvenire
Eine Filmrezension
Ich kam gerade von einer Vorführung und war auf dem Weg zum Café im Festival Palais von Cannes, als ich an einer Traube Reporter*innen vorbei kam und mir gegenüber einen älteren, sorgfältig gekleideten Mann mit grauem Bart vorfand. Er gab einige Autogramme an Fans, die laut „Nanni!“ riefen. Seine Mine zeigte eine Gleichgültigkeit und Ablehnung gegen den großen Medien-Zirkus vom Festival de Cannes, dem wichtigsten Film-Festival der Welt. Wenige Stunden später sollte ich seinen Film im größten Saal, dem Grand Theatre Lumière, anschauen. Der Mann war Nanni Moretti, ein italienischer Regisseur, der in den letzten Jahrzehnten Filme wie »Aprile«, oder »Palombella Rossa« (Wasserball und Kommunismus) herausgebracht hatte. Er war in all dieser Zeit ein häufiger Gast in Cannes, so erhielt er 2001 eine goldene Palme für seinen Film»La stanza del figlio« (Das Zimmer meines Sohnes). Dieses Jahr kam er zurück mit »Il sol dell’avvenire«. Einen Film, den wir am besten als eine Kombination von Moretti-typischen Elementen betrachten sollten.
Zuallererst spielt Moretti immer eine seiner Hauptrollen, nicht selten sogar eine ihm ähnelnde Persona. Auch in seinem neuesten Film spielt er mehr oder weniger sich selbst, einen Regisseur in den besten Jahren, einen Familienvater, der sich mehr auf seine Arbeit konzentriert als auf die Bedürfnisse seiner Partnerin und sich somit auch sehr wundert, als sie die Scheidung einreicht.
Das nächste Element ist eine hohe Intertextualität. Er liebt es Filme über Filme zu machen. So handelt auch dieser Film von den Dreharbeiten zu einem neuen Film über die kommunistische Partei von Italien (PCI) und ihre Krise während der ungarischen Revolution 1956. Der Verweis ist schnell gefunden: der realexistierende Moretti drehte 1990 tatsächlich einen Dokumentarfilm, namens »la cosa« (die Sache), über eine andere Krise der PCI, die damals unter einer Identitätskrise nach dem Zerfall des Sowjetblocks litt. In diesem Verweis finden wir also sogleich das dritte Element seiner Filme: Moretti ist Kommunist und beschäftigt sich in seinen Filmen viel und ausgiebig mit der Partei und der politischen Linken im Allgemeinen.
So sollte ich die 90 Minuten in der ersten Reihe im Rang des großen Kinosaals mit freudiger Überraschung, interessiertem Nachdenken und schallendem Gelächter verbringen. »Il sol dell’avvenire« traut sich einen großen Abwasch mit einer ganzen Menge an Themen. Besonders dem zentralen Konflikt, der Krise des Sozialismus, will ich mich hier genauer widmen. Der Film im Film, um den es geht, soll ein groß-angelegtes Historiendrama werden. Der Chefredakteur der Parteizeitung L’Unità lädt einen ungarischen Zirkus nach Italien ein. Kurz darauf bricht in Budapest die ungarische Revolution aus. Student*innen, Anti-Kommunist*innen und Nationalist*innen vertreiben die Rote Armee und die kommunistische Regierung erst aus der Stadt, letztlich aus ganz Ungarn, um sich dann, nach dem Beispiel Österreichs, als neutralen Staat zwischen Warschauer Pakt und NATO zu positionieren. Wenige Tage später befiehlt Khrushchev den Einmarsch der Roten Armee und die Unterdrückung der Revolte. Das Ergebnis: tausende Tote und Verletzte, und in Ländern wie Italien und Frankreich eine gewaltige Krise der Kommunistischen Parteien. Schon wenige Monate vorher, hatte die Veröffentlichung einer geheimen Rede von Khrushchev, in der er die Verbrechen der Stalin-Ära und seinen Personenkult kritisierte, zu einem Erdrutsch in den Kommunistischen Parteien des Westens geführt.
Die Situation im Film stellt sich als zerrissen dar. Zum einen will die Führungsebene der Partei nicht die Verbindung zur UDSSR und die Hoffnung auf einen real-existierenden Sozialismus gefährden, zum anderen ist das Vorgehen der sowjetischen Partei nicht mit den Ansprüchen an einen modernen Kommunismus vereinbar. Die Redaktion der L’Unità ist gespalten. Wir können nicht vergessen, dass diese historische Grundlage in »Il sol dell’avvenire« nur die erste Ebene spielt, über die Moretti weitere Krisen konstruiert. Da sei zum einen die Krise am Filmset. Die Schauspieler*innen interpretieren den Stoff eher als eine Romanze. Sie wollen eine Liebesbeziehung zwischen den beiden Mitgliedern der Kommunistischen Partei entstehen lassen. Gleichzeitig springen die Produzenten ab, was zu einem Geldmangel und damit zum Drehstop führt. Die Figur des Regisseurs muss sich also nach neuen Investoren für seinen Film umsehen, was zu einem Meeting mit Netflix führt. Diese Szene erhielt in Cannes tosenden Szenenapplaus. Ohne zu viel zu verraten, schafft es Moretti, eine grundlegende Kritik auf den Punkt zu bringen. Das Kino befindet sich in der Krise und die einzigen, die noch Geld für große Produktionen bezahlen wollen, erwarten spektakuläre Blockbuster mit Plot Twists und Spezialeffekten. Für intelligentes, politisches Kino ist kein Platz mehr. Auch Morettis Ehe kriselt in seinem Film, während seine Frau sich scheiden lassen will, ist er so beschäftigt mit seinem Film, dass er ihre Scheidung nicht einmal richtig realisieren kann. Wir sehen also, dass wir es mit einem wahren Krisenfilm zu tun haben. Morettis Hauptperson verzweifelt beinahe an seiner Umwelt, alles scheint sich gegen ihn verschworen zu haben.
Wir müssen noch einmal den Bogen zu »la cosa«, seinem Dokumentarfilm aus den 90ern schlagen. Wir sollten diesen Film als eine Fortsetzung begreifen. Von der Krise der 50er in die Krise der 90er und schließlich in die aktuelle Krise der Gegenwart. Moretti will klar machen, wie sich die politische Linke in Europa konstant in Widersprüchen und damit einhergehend in Krisen verheddert. So erkennen wir sehr feine Anspielungen auf das Verhalten der Linken auch zum Ukraine Krieg. Es gibt beispielsweise eine Situation, in der Moretti einen jungen, aufstrebenden Regisseur an seinem Set besucht. Dieser dreht gerade einen Actionfilm und ist bei der Schlussszene. Der Held soll den Bösewicht mit einer Pistole exekutieren. Moretti unterbricht den Dreh lautstark. Er findet die Geste zu abgedroschen, das Bild der heldenhafte Exekution zu unreflektiert. Folglich ruft er mehrere Freunde an, darunter Künstler und Philosophen, um mit ihnen die Szene durchzusprechen. Ist die Körpersprache der beiden Kontrahenten zulässig? Ist das Bild nicht zu abgedroschen? Diese Fragen stellt sich der junge Star-Regisseur gar nicht. Für ihn ist es eine coole Action Szene, und darauf kommt es an. Während Moretti noch über die Sache grübelt, dreht man im Hintergrund schnell weiter, der Böse wird erschossen und alles ist binnen weniger Sekunden im Kasten.
In gewisser Weise können wir die beiden Herangehensweisen auch in den Beobachtungen und Kommentaren über den Krieg wiederfinden. Da gibt es die einen, die von heroischen Helden und bösen Gegnern sprechen. Wobei man manchmal denken könnte, dass sie eher über einen Hollywood Streifen reden. Gleichzeitig wird hier vorschnell agiert. Die Analyse und Bewertung werden verkürzt und gerne einmal ein Ereignis vorverurteilt. Auf Menschenleben und die Bedeutung des Ganzen im Sinne einer Gewalteskalation legt man weniger wert. Auf der anderen Seite muss alles genau durchdacht und jede Kleinigkeit auf der Bedeutungs- und Symbolebene durchdiskutiert werden. Die Geschwindigkeit kommt dabei völlig zum Erliegen und man mäandert zwischen wenig Konkretem hin und her, ohne sich klar positionieren zu können. Morettis Charakter lässt sich in letzteres Bild einordnen: Das gestörte Verhältnis zu seiner Frau entsteht schließlich genau durch seine geistige Abwesenheit. Er ist zu sehr in seinen Gedanken und Überlegungen versunken und findet in seinen wirklichen Rollen gar nicht mehr statt. Er sollte eigentlich ein Vater und Ehemann sein, doch beschäftigt ihn nur das Drehbuch für seinen Film. Die Kommunistische Partei im fiktiven Film befindet sich in dem gleichen Zustand der Selbst-Lähmung. Durch die Ignoranz, der akut wichtigen Themen, kommt sie weder vor- noch zurück. Eigentlich ist geplant, dass der Film mit dem Selbstmord des Chefredakteurs endet. Doch Moretti entscheidet sich anders. Er will es nicht mit dem Versagen und der Kapitulation enden lassen. Schließlich heißt der Film nicht umsonst »Il sol dell’avvenire« (Die Sonne der Zukunft). Der Regisseur erkennt, zu Recht, dass er mit dem Medium Film ein magisches Werkzeug an der Hand hat. Er kann die Geschichte einfach umschreiben und einen anderen, besseren Ausgang erfinden. Eine strahlende Zukunft eben. Kurzum entscheidet sich die Redaktion dazu, die Geschehnisse in Budapest zu verurteilen und sich von der sowjetischen Partei loszusagen. Die Partei gewinnt ihre Glaubwürdigkeit wieder. Mit einem großen Umzug, zusammen mit den ungarischen Zirkusartisten, endet der Film. Sicher hat Moretti damit keine strikte Handlungsanweisung für die aktuelle Krise des Sozialismus geliefert. Trotzdem ist die Aussage klar, wir haben es in der Hand, uns eine strahlende Zukunft zu schaffen.
Die italienische Polit-Komödie ist sicherlich einer der intelligentesten Filme seit vielen Jahren. Sie schafft es neben ihrer interessanten Handlung, eine Vielzahl an Themen anzuschneiden, und die Selbst-Blockade der europäischen Linken zu reflektieren. Nanni Moretti macht, wie er selbst sagt, nur etwa alle 5 Jahre einen Film, und gerade deshalb sollte man sich seinen Neuesten nicht entgehen lassen. »Il sol dell’avvenire« läuft bereits in den französischen Kinos und kommt hoffentlich bald auch nach Deutschland. Eine große, uneingeschränkte Empfehlung.
Tobias, Kinoliebhaber und leidenschaftlicher Film-Festival Gänger war dieses Jahr auf den 71. Filmfestspielen von Cannes und seit diesem Jahr im SDS Hannover aktiv.
© Fandango e Sacher Film