02 Apr Von der Freiheit, keine Wahl zu haben
In den letzten zwei Jahren war kein Geld da, Pflegerinnen und Co. korrekt zu bezahlen. Der Pflegebonus während Corona betrug eine Milliarde Euro – ein Prozent von dem, was die Bundeswehr nun zusätzlich bekommt. Wie frei macht uns die „Investition in unsere Freiheit“ wirklich?
„Hast du schon gehört? Die Bundeswehr bekommt 100 Milliarden Euro“ sagt Milo, als wir uns auf der Wiese vor der Universität treffen. Es ist Samstag, die Sonne scheint und einige Studis haben sich zum Flunkyball-Turnier verabredet. Ich beobachte sie von Weitem. „Habe ich schon mitbekommen“ entgegne ich und werde nachdenklich. Ich erinnere mich an meine Einführungswoche. Während andere vom Umzug in die neue Stadt erzählten, von ihren Work-and-Travel- und Freiwilligendienst-Erfahrungen, stand ich daneben und nickte. Nach dem Abitur bin ich in meiner Heimatstadt geblieben, habe weiter bei meinem alleinerziehenden Vater gewohnt. Wieso sollte ich Geld für Essen und eine Wohnung ausgeben, wenn ich hier doch alles hatte?
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich zu Rechnen begann: Minimum 400 Miete, wenn nicht mehr. Weitere 100 oder 200 Euro für Essen, dann noch Bücher und vielleicht etwas, um mit Freund*innen auszugehen – insgesamt eine ganze Menge Geld, die mein Vater und ich nicht hatten. Einfach 500 Euro oder mehr monatlich von den Eltern zu bekommen, um sich mal woanders auszuprobieren, war bei uns finanziell nicht drin. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass es bei mir eben anders war, versuchte ich, mich so wenig wie möglich damit zu beschäftigen. Ich limitierte mich selbst, um die real existierenden Grenzen nicht zu spüren. Wie ein automatischer Selbstschutz.
„Eine Investition in unsere Freiheit“
„Und das soll eine ‚Investition in unsere Freiheit‘ sein, sagt zumindest Christian Lindner. Ich frage mich, warum mehr Geld für die Bundeswehr mehr Freiheit bedeuten soll“, wirft Milo ein und reißt mich aus meinen Gedanken. Mit ihm kann ich über alles reden, ich muss mich nicht verstecken. Seit der Schulzeit lautet meine Devise: Bloß nicht auffallen; etwa durch Kleidung, Sprache oder Hobbys. Das Gefühl nicht dazuzugehören, kennt man als Arbeiterinnenkind nur zu gut. Vor allem, wenn man ein Gymnasium oder eine Universität besucht.
Milo hatte es noch härter als ich. Im Gegensatz zu ihm konnte ich studieren. Er hat mit 17 die Schule abgebrochen, wuchs in einer zu engen Wohnung mit seiner Mutter und seiner Schwester auf. Sie bezogen Sozialhilfe; eine größere Wohnung war nicht drin. Privatsphäre, ein ruhiger Raum zum Lernen oder Hilfe bei den Schulaufgaben? Fehlanzeige. Vor allem Kinder von Einwanderinnen wissen, dass die Sprachbarriere letzteres häufig früh verhindert. Um sich ohne Unterstützung seiner Familie über Wasser zu halten, nahm Milo einen Aushilfsjob nach dem anderen an. Statt freier Berufswahl, wie er sich das als Kind noch vorstellte, gab es Ernüchterung.
Das hat Milo gezeichnet. Häufig geht es ihm schlecht, ihn plagen Zukunftsängste. Die wechselseitige Beeinflussung von Armut und psychischen Krankheiten wird zu wenig thematisiert. Einen Therapieplatz zu bekommen, ist einfacher gesagt als getan, denn die Nachfrage steigt: Die Illusion aufrecht zu erhalten, Kapitalismus sei das einzig „funktionierende“ System, kostet immer mehr Menschen ihre psychische Gesundheit. Kein Wunder also, dass Milo das Regierungsnarrativ „unserer Freiheit“ in Frage stellt. Ein ganzes Leben lang lohnabhängig sein, sich kaputt arbeiten, unter Leistungsdruck und Zukunftsängsten leiden, die eigene mentale Gesundheit ruinieren – und all das nur, um unsere Grundbedürfnisse erfüllen zu können. Was ist das für eine Freiheit?
Eine freie Wahl geht anders
Nach dem Abitur fing ich direkt an zu studieren, was als Arbeiter*innenkind nicht die einfachste Entscheidung war. Niemand aus meiner Familie konnte mir die Angst vorm Studieren nehmen. Die Fächerwahl sorgte am meisten für Verunsicherung. Viele Studiengänge boten keine eindeutige Aussicht auf einen Beruf. Ausbildung zum Koch? Man wird Koch. Philosophie und Germanistik-Studium? Wenn nicht auf Lehramt, sieht die Zukunft weniger klar aus. Ohne Familie, die einem finanziell unter die Arme greift, falls man nicht direkt einen Job findet, sucht man sich eher ein Fach aus, das auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist.
Der Gedanke ist nicht: „Womit würde ich mich am liebsten beschäftigen?“, sondern: „Was finde ich nicht total schrecklich und garantiert mir, dass ich einen Job bekomme?“ Deshalb kam vieles für mich gar nicht erst in Frage. Eine freie Wahl geht anders. Als Milo mir das erste Mal von seiner Situation erzählte, war ich baff. Meine erste Reaktion war Traurigkeit und das Gefühl, privilegiert zu sein. Trotz aller Probleme konnte ich, im Gegensatz zu ihm, ein Studium anfangen. Danach kam die Wut. Warum höre ich solche Geschichten und denke, ich sei privilegiert? Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass jede*r den Aufstieg schaffen kann, wenn sie*er nur hart genug dafür kämpft.
Abschied von der Aufsteigermentalität
Das System der Studienfinanzierung in Deutschland zeigt, dass diese Aufsteigermentalität fehl am Platz ist. BAföG bekommen nur 13% der Studierenden. Der Antrag ist kompliziert. Ich kenne Geschichten von Freund*innen mit geschiedenen Eltern, die enorme Schwierigkeiten hatten, die Unterlagen zusammenzutragen. Das kostet Zeit und Nerven, die zum ohnehin schon langen Bearbeitungsprozess hinzukommen. Die Beantragung garantiert – schaut man auf die nackten Zahlen – nur selten einen positiven Bescheid.
Bis das Geld dann überwiesen wird, muss man oft einige Monate überbrücken. Selbst dann ist der Regelsatz knapp berechnet und Kosten wie Studiengebühren werden nicht abgedeckt. Man muss also trotzdem schauen, wo man bleibt. Wie? Durch Lohnarbeit, die wertvolle Zeit für das Studium raubt und eine doppelte Belastung darstellt. Freundinnen von mir nahmen sogar einen Kredit für ihr Studium auf. Das mag für einige unvorstellbar wirken, ist in Deutschland aber noch immer Gang und Gäbe, zumindest für Arbeiterinnenkids. Kein Wunder also, dass nur 27 Prozent von ihnen ein Studium anfangen, gegenüber 79 Prozent aus Akademiker*innenhaushalten. Studieren sollte in Deutschland kein Privileg sein, doch für viele ist es genau das.
Was sagt mehr Frieden, als eine Armee?
„Ja, Freiheit… du hast Recht, Milo. Ich denke auch nicht, dass die Bundeswehr uns freier macht.“ Er sagt: „Es ist absurd. Für nichts gab es die letzten Jahre Geld, aber für die Armee auf einmal schon. Richtige essential workers, oder? Geld ins Militär zu pumpen war nie eine gute Idee. Vor allem nicht in Deutschland.“ Ich kann ihm nur zustimmen: „Und das für Frieden und Freiheit – was sagt mehr Frieden, als eine Armee zu finanzieren, die ohnehin schon jedes Jahr 50 Milliarden bekommt? Und die in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht hat, weil das ganze Geld an Beraterfirmen ging und immer wieder rechtsextreme Netzwerke aufflogen?“
Die Grenze zwischen Unten und Oben
Es gibt riesige Unterschiede innerhalb von Deutschland. Oft hören wir, wir säßen alle im selben Boot. Doch das tun wir nicht. Im Zuge der Pandemie hat die Armutsquote einen Rekordwert erreicht; rund 13,4 Millionen Menschen gelten in Deutschland als arm. Wir leben in einer Klassengesellschaft, auch wenn das altmodisch klingt. Die Grenze verläuft weiterhin zwischen Unten und Oben. Was wir brauchen, ist Klassensolidarität. Wir sind eben nicht unseres eigenen Glückes Schmied. Statt Probleme zu individualisieren, was uns dazu bringt, uns für unsere finanzielle Situation zu schämen und uns zu isolieren, müssen wir uns mit den Menschen verbünden, die ebenso wenig von den herrschenden Verhältnissen profitieren.
Wir sollten stolz darauf sein, dass wir es schaffen, uns in einer Welt zu behaupten, die von sozialer Ungerechtigkeit geprägt ist und in der wir nicht die besten Startvoraussetzungen hatten. Wir brauchen eine Gesellschaft, die den Einfluss der äußeren Umstände erkennt, kritisiert und gemeinsam verändert. Weg von einer Vereinzelung, hin zu einem neuen, kollektiven Klassenbewusstsein. Das Problem sind nicht wir, es ist das kapitalistische System. Klimawandel, imperialistische Kriege, steigende Armut. Wir könnten eine bessere Welt haben; an den Entscheidungen unserer Regierung sehen wir, dass das nicht gewollt ist. Lindners Freiheit ist die der Privilegierten in einem System, das auf tiefer Ungleichheit beruht. „Wir meinen definitiv eine andere Freiheit“, sagt Milo und wir beobachten, wie die Sonne über der Uni langsam untergeht.
Dieser Text beruht auf Erfahrungen von einigen unserer Genoss*innen, die von Lea und Sabrina gesammelt und aufgeschrieben wurden. Er erschien zuerst in unserer Semesterausgabe – critica Nr. 28