TikToks für die 99%

TikTok ist eine der am meisten heruntergeladenen Apps.

TikToks für die 99%

TikTok lässt seine Nutzer*innen verblöden – diese Kritik hegen viele Linke gegen die Social Media-Plattform. Sie sei demnach für emanzipatorische Inhalte ungeeignet. Das sehen auch Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt so, die sich in einer Folge ihres Wirtschafts-Podcasts „Wohlstand für Alle“ mit der Kurzvideo-Plattform befassen.

Mit ihren Bedenken sind sie nicht alleine. Soziale Netzwerke stehen schon seit ihren Anfängen, berechtigterweise, unter Beobachtung. Meistens sind es profitorientierte Unternehmen, die hinter den scheinbar kostenlosen Plattformen stecken. Angezweifelt wird auch, ob die Netzwerke jemals dem selbstauferlegten Anspruch, dass dort jede*r partizipieren und ihre*seine Meinung kundtun könne, gerecht wurden. Dazu kommt die Kritik am Überwachungskapitalismus – maßgeblich geprägt von Shoshana Zuboff – die das hintergründige Sammeln und Weiterverkaufen von Daten bei der Nutzung von Online-Diensten bemängelt.

Bei TikTok handelt es sich um eine der am meisten genutzten und am stärksten wachsenden Social Media-Plattformen. Das Funktionsprinzip ist das folgende: Die Nutzer*in öffnet die App und wird mit einem endlosen Kurzvideo-Feed konfrontiert, das TikTok algorithmisch kuratiert. Wie dies genau geschieht, ist nicht bekannt – wohl aber, dass eine Menge Faktoren, wie Interaktion in Form von Likes oder Kommentaren, Verweildauer oder Reaktion zu ähnlichen TikToks, dabei eine Rolle spielen, was die Nutzer*in angezeigt bekommt.

Im Verhältnis zu anderen Social Media-Plattformen schafft es TikTok durch seinen ausgeklügelten Algorithmus besonders gut, Menschen dazu zu verleiten, möglichst viel Zeit in der App zu verbringen. Der Plattform kommt also mittlerweile eine enorme Macht hinsichtlich dem Schaffen von Öffentlichkeit zu.

Unbehagen gegenüber Großkonzernen

Selbstverständlich weckt das bei uns als Kritiker*innen des Kapitalismus Unbehagen. Dass ein von Profitinteressen getriebener Großkonzern wie ByteDance, der zudem eine äußerst fragwürdige Zensur- und Datenschutzpolitik betreibt, die Hoheit darüber und das Geheimrezept dafür hat, welchen Content (oft sehr junge) Menschen täglich Stunden um Stunden konsumieren, lehnen wir prinzipiell ab.

Auch Nymoen und Schmitt bringen diese Kritik hervor. Vor allem die von ihnen angeprangerte Datenakquise im Hintergrund und die intensivierte Möglichkeit für In-App-Käufe sind von einem linkspolitischen Standpunkt aus negativ zu bewerten. „TikTok ist so wenig eine Kurzvideo-Plattform, wie Google eine Suchmaschine ist“ stellt Schmitt fest und verweist damit auch auf das überwachungskapitalismuskritische Paradigma, das zeigt, wie unsere Daten als Rohstoffe für sogenannte Verhaltensmodifikationsmittel in einer völlig neuen Marktform fungieren.

Abrufen kann man ihren Podcast unter anderem auf YouTube. Die üblichen, zuvor genannten Datenschutzbedenken kann man bezüglich Alphabet, dem Konzern, zu dem Google und somit YouTube gehören, ebenso äußern, wie zu ByteDance. Hier noch ein schöner Alphabet-spezifischer Fakt: Der Konzern kooperiert in den USA unter anderem mit der Abschiebebehörde ICE. Warum genau ist TikTok nun so viel schlimmer als YouTube?

Die perfekte neoliberale Plattform?

In der Argumentation von „Wohlstand für Alle“ gibt es einen entscheidenden Fehler. Sie behaupten, neoliberale Inhalte funktionierten auf der Plattform besonders gut. Marxistische oder keynesianische (Wirtschafts-)Theorie könne man nicht in 60 Sekunden, einer typischen Länge für TikToks, erklären. Demnach sei die Plattform für linke Inhalte ungeeignet.

Warum sollten Neoliberale ihr Weltbild – oder Teile aus ihrem Weltbild – besser in der Kürze vermitteln können als wir? Es mag stimmen, dass sie heute auf TikTok erfolgreicher sind als Linke. Aber nicht, weil man unsere Argumente nicht auf 60 Sekunden herunterbrechen kann. Denn diese bestehen, bei aller Liebe, nicht ausschließlich aus komplexer, marxistischer Wirtschaftstheorie. Wenn wir es schaffen, die Mechanismen der App für unsere Anliegen zu nutzen (weiter unten mehr dazu, wie das gelingen kann und sogar schon gelingt), können auch linke Inhalte dort erfolgreich sein. Wir stehen mit unseren Argumenten für die Interessen der 99%, Neoliberale nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft. Diesen Vorteil gilt es zu nutzen – wenn es sein muss, mit der Hilfe von TikTok.

In Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen

Wenn wir uns die Frage stellen, wie wir mit der App verfahren sollen, begeben wir uns in ein Dilemma. Wir haben selbstverständlich kein Interesse daran, kapitalistische Großkonzerne mit unseren Daten zu füttern. In der Vergangenheit war es möglich, sich bestimmten Kanälen zu verweigern, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Heute haben wir diese Wahl nicht mehr.

So ist es schon seit Jahrzehnten in gewissen Kreisen (zurecht) verpönt, als Politiker*in mit der Bild-Zeitung zu sprechen. Andererseits ist es die größte Tageszeitung Deutschlands. Mit Hilfe des Springer-Blatts erreicht man eine größere Menge Menschen, als es durch ein Interview in unseren ausbaufähig aufgestellten linken Medien momentan der Fall ist. Trotzdem besteht die Möglichkeit, darauf zu verzichten und mit einer anderen Zeitung zu sprechen.

Nun ist es jedoch entscheidend zu verstehen, dass wir Social Media-Plattformen nicht analog zu Einzelmedien, wie der Bild, betrachten können. Ihre Macht ist ungleich größer. Denn Instagram, YouTube oder TikTok können eher auf der Ebene der, um bei dem Beispiel zu bleiben, gesamten Zeitungsbranche eingeordnet werden. Auf ihnen tummelt sich ein Großteil der Palette von Vertreter*innen der etablierten Presse sowie eine Masse an weiteren Akteur*innen. Sie alle bereiten ihre Inhalte für diese sogenannten Metamedien – wenn auch noch nicht alle für TikTok – auf und treten miteinander um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen in Konkurrenz.

Linke Positionen in der digitalen Öffentlichkeit

Sich von allen, zurecht zu kritisierenden, sozialen Netzwerken zurückzuziehen, würde für linke Positionen bedeuten, dass sie in der digitalen Öffentlichkeit nicht mehr stattfänden. Wir konnten uns mit YouTube, Facebook und mittlerweile sogar Instagram anfreunden. Wir sollten TikTok jetzt nicht verdammen und den Neoliberalen das Feld überlassen, während die Reichweite der Plattform wächst.

So wie unsere Elterngeneration stundenlang vorm Fernseher saß oder sitzt oder die Zeitung in der Hand hielt, so sitzt die Jugend heute vor TikTok. Fluch und Segen, dass dort jede*r Inhalte einspielen kann – und auf jeden Fall ein Mechanismus, den wir als gesellschaftliche Linke nutzen sollten. Inwiefern der Algorithmus den Nutzer*innen unseren Content dann wieder ausspielt, ist eine andere, berechtigte Frage.

Schmitt und Nymoen stellen selbst fest, was am besten funktioniert: affizierende Inhalte, also solche, die eine Reaktion hervorrufen; im Sinne von Likes, Kommentaren oder Weiterleitungen. Diese werden vom Algorithmus wieder und wieder ausgespielt. Im gleichen Atemzug werden populistische Inhalte von ihnen als besonders erfolgreich auf TikTok ausgewiesen, was sie als negativ bewerten. Dem könnte man entgegnen, dass Chantal Mouffe uns nahegelegt hat, dass etwas mehr Linkspopulismus der Gesellschaft durchaus gut täte.

Kritik auf Ebene der Bambuszahnbürste

Fest steht, dass junge Menschen zunehmend Zeit auf TikTok verbringen. Sich dort auszuklinken, wäre fatal. Im neoliberalen Sumpf ist es unerlässlich, mit linken Inhalten dagegenzuhalten. Am naheliegendsten wäre es, sich dafür die generelle Logik der Plattform zu eigen zu machen. Diese sieht bei großen Teilen des Contents folgendermaßen aus: Erfolgreiche Memes (oder auch Sounds) werden zigfach kommentiert (gestitcht), nachgeahmt und neubesetzt. Unsere Argumente sind nicht so kompliziert, dass es für uns unmöglich ist, diese Mechanismen zu nutzen.

Zudem zeigt die Plattform bereits, dass es funktioniert. Als Positivbeispiel kann man etwa das Profil der Amazon Labor Union zu Rate ziehen, deren TikToks mittlerweile eine Million Likes versammeln konnten (mehr über ihre gewerkschaftlichen Kämpfe könnt ihr hier nachlesen). Auch die Wirtschafts- und Politikkommentatorin Grace Blakely schafft es, ihre Argumente auf TikTok-Länge zu bringen, wofür sie Hunderttausende Aufrufe erhält.

Heißt: wir sollten uns neuen Plattformen, bei absolut berechtigten Datenschutzbedenken, nicht verschließen – das tun wir bei YouTube und Co. ja auch nicht. Vielmehr gilt es, eine linke Hegemonie aufzubauen. Die Nichtnutzung von TikTok als Kritik am Überwachungskapitalismus bleibt auf Ebene der Konsumkritik als Rettung in der Klimakatastrophe zurück – und da wissen wir ja auch, dass keine Bambuszahnbürste uns retten wird.

Lea Klingberg studiert Medienwissenschaft in Bonn und spricht sich für die Nutzung sozialer Medien als Mittel politischer Agitation aus. Deswegen hat sie auch den Instagram-Kanal der critica eingerichtet.