23 Dez Wer zahlt den »Preis der Freiheit«?
Der geopolitische Blick auf den Ukrainekrieg verdeckt schnell die verheerenden menschlichen Kosten. Wiederum verdecken humanitäre Erzählungen über die westliche Position eine unmenschliche Geopolitik. Eine kritische Einordnung von Marie-Gulbahar und Felix
[Anmerkung der Redaktion: dieser Beitrag wurde Ende September zum letzten Mal aktualisiert und erscheint hier in unveränderter Form.]
Der Krieg in der Ukraine erschüttert Europa. Viele Menschen werden zum ersten Mal mit einem Krieg auf dem eigenen Kontinent konfrontiert. Während hierzulande über Waffenlieferungen, Sanktionen, Eroberung und Befreiung diskutiert wird, wird schnell die größte leidtragende Gruppe des Krieges vergessen: die ukrainische Zivilbevölkerung, die bereits mehr als 28.000 Tote meldet.
Die Russische Föderation verfolgt ihre Kriegsziele ohne Rücksicht auf zivile Einrichtungen und ist deshalb maßgeblich für die Todeszahlen verantwortlich. Russland ist als Aggressor klar zu verurteilen, jedoch muss auch die ukrainische Politik kritisch betrachtet werden. Männliche ukrainische Bürger dürfen beispielsweise nicht das Land verlassen, damit sie der Rekrutierung in den Kampfeinsatz nicht entkommen. Jede Priorisierung von politischen und territorialen Interessen über Menschenleben ist zu verurteilen.
Weltweit spürbare Auswirkungen
Während sich die direkten Kriegsfolgen noch auf die Ukraine beschränken, werden Auswirkungen des Krieges und der damit verbundenen Sanktionspolitik des Westens weltweit spürbar. Unter anderem der russische Lieferstopp sorgt für eine erhebliche Gaspreiserhöhung, gerade ärmeren Haushalten steht ein harter Winter bevor. Noch schlimmer sieht es in Staaten wie Kasachstan und Kirgisistan aus, die für Lebensmittel fast vollständig von russischen Exporten abhängig sind. Mittelbar wirkt sich die Erhöhung der Rohstoffkosten auch verheerend auf Nahost und Afrika aus. Wenn europäische Spitzenpolitiker*innen wie Macron die Folgen als »Preis der Freiheit« bezeichnen, ist das blanker Zynismus gegenüber den Betroffenen.
Humanitarismus oder Geopolitik?
Dass humanitäre Gründe für die Unterstützung der Ukraine durch Deutschland und die EU offenbar doch nicht so ausschlaggebend sind wie Geopolitik, zeigt die gegenwärtige Lage im Südkaukasus. Aserbaidschan hat im September Armenien angegriffen. Man möchte meinen, dass ebenfalls mit Sanktionen gegen den Aggressor und Waffenlieferungen an den verteidigenden Staat reagiert wird. Doch die EU schweigt, wie sie es schon beim Angriff des Nato-Staats Türkei auf Rojava tat, das Gas-Abkommen mit Aserbaidschan wird nicht in Frage gestellt. Kriege werden eben nicht verurteilt, weil sie Menschenleben gefährden, sondern nur dann, wenn sie den eigenen geopolitischen Interessen nicht entsprechen.
Keinen Monat hat die Ampel-Koalition gebraucht, um den Krieg für eine militaristische Zeitenwende in der BRD auszunutzen. Das Sondervermögen für die Aufrüstung der Bundeswehr wurde Tage nach Kriegsausbruch beschlossen – eine Entscheidung, von der nicht die Menschen in der Ukraine, sondern deutsche Rüstungskonzerne profitieren.
Weiterhin menschenverachtende Asylpolitik
Die Zivilcourage der Menschen, die Geflüchtete bei sich aufnehmen, ist lobenswert, aber eine menschenwürdige Asylpolitik ersetzt sie nicht. Denn zugleich finden an den EU-Außengrenzen aktuell verstärkt völkerrechtswidrige Pushbacks statt, Flüchtlinge mit der falschen Hautfarbe werden diskriminiert und misshandelt. Die Asylpolitik der Bundesrepublik ist daher genauso menschenverachtend, wie sie es 2015 schon war.
Mit Waffen zum Frieden?
Das Leid, welches durch den Krieg verursacht wird, nun mit weiterer Militarisierung zu flankieren, kann der deutschen Öffentlichkeit nur durch eine aggressive Kriegsrhetorik verkauft werden. Das Blockdenken des Kalten Krieges erlebt damit gerade eine Renaissance. All das soll legitimieren, dass Hunderttausende in einen grauenvollen Tod geschickt werden, während sich Thyssen-Krupp und Co. an Kriegen finanziell bereichern. Auch ein Überfall durch eine imperialistische Großmacht rechtfertigt dieses Leid jedoch nicht, mal ganz abgesehen davon, dass die »Freiheit«, die damit verteidigt wird, sich zurzeit in kalten Wohnungen und leeren Kühlschränken ausdrückt.
Die kampfwillige Bevölkerung der Ukraine hat jedes Recht, sich zu widersetzen – ihnen gilt unsere Solidarität. Die Unterstützung für Ukrainer*innen darf aber nicht gleichgesetzt werden mit Waffenlieferungen oder gar einer Intervention der Nato. Mehr Waffen haben noch nie zu mehr Frieden geführt.
Felix Diener und Marie-Gulbahar Kartal sind beide seit viel zu langer Zeit im Heidelberger SDS aktiv. Felix studiert Deutsch und Theologie auf Lehramt und Marie studiert Gartenbau. Sie teilen eine Zuneigung zu gut gewürztem Essen und nuancierter marxistischer Analyse.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der critica Nr. 29. Du erhältst sie beim SDS in deiner Stadt oder kannst sie hier online lesen.