Dienstpflicht: Die Jugend soll‘s richten

Dienstpflicht: Die Jugend soll‘s richten

Der soziale Pflichtdienst ist eine Maßnahme, die diejenigen in die Verantwortung nimmt, die keine tragen, und existierende Missstände unter den Teppich kehrt, meint Luca.

Am 12.06. sprach sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während eines Interviews mit der Bild am Sonntag für die Einführung eines sozialen Pflichtdiensts für junge Menschen aus. Dieser so Steinmeier, könnte für einen unbestimmten Zeitraum „in der Betreuung von Senioren, in Behinderteneinrichtungen oder in Obdachlosenunterkünften geleistet werden“.

Er belebt damit eine immer wiederkehrende Debatte. Die Umsetzung eines Pflichtdienstes ist zwar unrealistisch, dennoch lohnt es sich diese genauer zu betrachten. Denn der aktuelle Kontext verleiht ihr eine neue Qualität. Erstens durch den Krieg in der Ukraine und die neue deutsche Aufrüstung. Und zweitens vor dem Hintergrund der Pflegekrise. Der Pflichtdienst könnte eine zynische Antwort auf den deutschen Pflegenotstand sein. Ein Versuch unter dem Zeichen einer sozialen Maßnahme, die Löcher zu stopfen, die die neoliberale Spar- und Privatisierungspolitik der letzten Regierungen in unser Sozialsystem gerissen hat.

Pflichtdienst und Dienstpflicht

Seit der Aussetzung der Wehrpflicht kehrt der Vorschlag des Bundespräsidenten, in verschiedener Form immer wieder. 2011 wurde diese vom Bundestag aufgrund verschiedener finanzieller, gesetzlicher und sicherheitspolitischer Gründe abgeschafft.

Seitdem wurde von Konservativen immer wieder versucht eine Dienstpflicht erneut auf den Tisch zu bringen.

Im August 2018 schlug die CDU die Einführung eines verpflichtenden „Gesellschaftsjahres“ für junge Menschen vor. Ein verpflichtendes Jahr in der Bundeswehr oder einer zivilen, sozialen Einrichtung. Damals stieß dieser Vorschlag, getragen von der früheren CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, in Politik und Gesellschaft größtenteils auf Kritik und Skepsis.

Ein Grund für die Aussetzung der Wehrpflicht war die Überzeugung, dass die Bundeswehr nach der Auflösung des Warschauer Paktes in Zukunft vor allem als Krisenreaktionskraft in Auslandseinätzen benötigt würde und nicht mehr für Bündnis- und Landesverteidigung.

Putins Angriffskrieg auf die Ukraine und die Verhärtung der Fronten zwischen der Russischen Föderation und der NATO haben diese Überzeugung in Teilen der Gesellschaft in Frage gestellt. Die Regierung bereitet einen Kurswechsel der deutschen Außenpolitik im Zeichen ihrer „Zeitenwende“ vor und in der Bevölkerung steigt die Sympathie für die Bundeswehr und die Aufrüstung Deutschlands.

Im Lichte dieser Entwicklungen sprachen sich im März CDU-Vieze Carsten Linnemann und einige CDU-Landesverbänden für eine Kombination aus verpflichtendem sozialem Engagement und Pflichtdienst in der Bundeswehr aus.

Im selben Zeitraum sprach sich der Generalinspekteur der Bundeswehr gegen eine Wehrpflicht aus.

Auch nach Steinmeier müsse ein Pflichtdienst nicht unbedingt bei der Bundeswehr stattfinden, im Interview mit Bild am Sonntag spricht er sich auch gegen eine allgemeine Wehrpflicht aus: „Ich war für die Wehrpflicht, solange es sie gab. Sie ist ausgesetzt worden, wir haben jetzt eine Bundeswehr mit ganz anderen Strukturen. Ich rate davon ab, die alte Debatte über die Wehrpflicht neu aufzulegen.“

In der Öffentlichkeit und den sozialen Medien wird der Fokus der Debatte definitiv auf einen sozialen Pflichtdienst gelegt. Sozialer Pflichtdienst und Wehrpflicht sind jedoch historisch verknüpft, so wurde zum Beispiel mit der Abschaffung der Wehrpflicht auch der Zivildienst abgeschafft. Und möglicherweise könnte durch einen Pflichtdienst auch der Weg zurück zu einer militärischen Dienstpflicht erleichtert werden. Stimmen für eine solche Wiedereinführung finden sich nun in allen Parteien.

Ob sozialer Pflichtdienst oder Kombination mit militärischer Dienstpflicht, gemeinsam haben die Forderungen, dass sie auf Kosten der Freiheit junger Menschen das bestehende System ergänzen und Lücken in diesem füllen. Unterstützt werden sie, vor allem von den älteren Generationen, unter verschiedenen Vorwänden.

Verspielte Zukunft, entwertetes Engagement

Das Argument mit dem sich seine Unterstützer*innen für einen Pflichtdienst einsetzten lässt sich in etwa so zusammenfassen: „Eine soziale Pflichtzeit für junge Menschen nach der Schule würde sie für neue Erfahrungen öffnen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und damit auch unsere Demokratie.

Klar ist, dass der Pflichtdienst mit einer Erwartungshaltung an junge Menschen geknüpft ist. Sie hätten der Gesellschaft einen Dienst zu leisten.

Gerade im Angesicht der Pandemie klingt das absurd. In den letzten zwei Jahren haben unter anderem Schüler*innen, Student*innen und Auszubildende unter den Folgen der Pandemie und der inkonsequenten Politik zu Gunsten der Wirtschaft gelitten. Doch es ist nicht nur die Pandemie in der junge Menschen aufgrund der Politik derjenigen einstecken müssen, die jetzt ihren Pflichtdienst fordern. Egal ob Klima, Mobilität, Bildung, Gesundheit, Wohnungspolitik oder Rente, die Gegenwart der jungen Menschen wird bewusst ignoriert, ihre Zukunft genauso bewusst verspielt. Wolfgang M. Schmitt fasst es gut zusammen wenn er twittert:

„Junge Menschen sollen als billige Arbeitskräfte oder Kanonenfutter dienen. Als Dank gibt es danach unbezahlbaren Wohnraum, befristete prekäre Arbeitsverträge, heruntergewirtschaftete Unis, Rente mit 70 und eine Klimakatastrophe.“

Es sollte niemanden wundern, dass Vorhaben wie der Pflichtdienst, eine Maßnahme zum Ausbau des Niedriglohnsektors und Ergänzung der neoliberalen Ordnung auch Berlins regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey unterstützt wird. Giffey, die den demokratischen Entscheid zur Vergesellschaftung von Deutsche Wohnen und Co. verhindert, äußert sich zum Pflichtdienst so:

„Wir leben in einer Veränderten Zeit und vielleicht gehört zur Zeitenwende auch, dass jeder junge Mensch ein Jahr für die Allgemeinheit aufbringt:“

Mit solchen Forderungen wird ausgeblendet wie viele junge Menschen schon ohnehin freiwilliges Engagement leisten. Seit 1999 hat die Zahl der sich freiwillig Engagierenden über alle Altersgruppen hinweg zugenommen. 2019 gaben 42% der 14-29-Jährigen an sich freiwillig zu engagieren.

Ein FSJ leisteten 53.331 Menschen in 2020. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch freiwilliges Engagement, wie so vieles, eine Frage der eigenen ökonomischen Situation ist. Wenige können es sich leisten unentlohnt zu arbeiten. In einer Gesellschaft die Armut individualisiert wird ignoriert, dass freiwilliges soziales Engagement außerhalb der Lohn und Care-Arbeit zu leisten ein „Privileg“ ist. Ein FSJ wird mit einem Stundenlohn von oft weniger als 3€ vergütet. Wer nicht auf die Unterstützung seiner Familie zählen kann, muss während eines, meist als Vollzeitstelle angedachten, sozialen Jahres mit Nebenjobs das nötige dazuverdienen. 2021/2022 hatten mehr als die Hälfte der FSJ Teilnehmer*innen hatten den höchsten Schulabschluss, während es nur rund ein Drittel mit Realabschluss und noch weniger mit Hauptschulabschluss waren. Ein FSJ nach der Schule, statt eine Ausbildung zu beginnen, muss man sich leisten können.

Solidarität in einer unsolidarischen Gesellschaft

Weiterhin sollte ein Pflichtdienst den sozialen Zusammenhalt und die politische Bildung fördern. Der Dienst wird von Politiker*innen, die so für ihn werben, als Maßnahme verstanden, um junge Menschen in soziale Gefüge einzugliedern, auf die sie sonst nicht stoßen würden, und ihnen Erfahrungen mitzugeben, die sie zu emphatischeren, offeneren und demokratischeren Bürgern machen.

Es ist zwar wünschenswert junge Menschen an andere Lebensrealitäten heranzuführen und in ihnen ein Verständnis für ihre Mitmenschen und für soziale Verantwortung zu wecken. Uns sollte aber klar sein, dass unsere sozialen Erfahrungen, die Interaktion mit Anderen und die Beziehungen, in denen wir zu ihnen stehen von unserer materiellen Realität abhängig sind. Wir sollten uns fragen, wieso in unserer Gesellschaft Spaltungslinien bestehen, warum Gruppen im sozialen Raum getrennt voneinander existieren.

Dann müssen wir uns fragen ob ein Pflichtdienst dazu beitragen könnte, diese sozialen Gegebenheiten zu Gunsten größerer Einigkeit zu überwinden und feststellen, dass er das in dieser Form und vor allem in diesem System nicht kann. Die größte Spaltungslinie, die sich durch unsere Gesellschaft zieht, ist eine ökonomische: zwischen Arm und Reich, zwischen System-Gewinner und -Verlierer. Die Schere zwischen Arm und Reich bewegt sich in den kapitalistischen Industrieländern immer weiter auseinander. Während der Pandemie hat diese Bewegung noch an Fahrt aufgenommen.

Wenn etwas soziale Teilhabe einschränkt, ist das Armut. Kultur, Hobbies, Engagement… Teilnahme am sozialen Leben muss man sich leisten können. Und wenn etwas Demokratie gefährdet, sind es soziale Ungleichheit und eine Politik im Sinne der Wenigen und ihres Eigentums. Doch an diesen Zuständen ändert die Politik nichts. Das kann sie überhaupt nicht, da Ungleichheit und Ungerechtigkeit notwendige Elemente unseres Systems sind. Stattdessen werden junge Menschen individuell in die Verantwortung genommen.

Fragen wir uns also besser, wie könnte unser soziales Miteinander unter radikal veränderten materiellen Verhältnissen aussehen: wie könnten wir soziale Räume für alle öffnen, Kunst, Kultur, Sport, Mobilität und Bildung ohne finanzielle und soziale Schranken zugänglich machen? Wie könnte unser Alltag aussehen, wenn Bildung für junge Menschen nicht der Verwertungslogik des Markts folgen, sondern der Entfaltung der eigenen Person dienen würde. Wie würden unsere sozialen Beziehungen aussehen, wenn wir zueinander nicht in zwanghafter Konkurrenz stehen würden?

Pflaster auf die Wunde

Der soziale Pflichtdienst ist eine liberale Maßnahme, die sich in ein liberales System einbettet und einen bestimmten Zweck erfüllt, billige Arbeitskräfte bereitzustellen.

2019/2020 arbeiteten die meisten FSJ-Teilnehmer*innen in: Kindertagesstätten, Schulen, Einrichtungen in der Behindertenhilfe, Rettungsdienste, Krankenhäuser und Kliniken, in der Stationären und ambulanten Pflege. Alle diese Bereiche sind gekennzeichnet von Fachkräftemangel, schlechten Arbeitsverhältnissen und geringer Entlohnung. Alle sind auch für das Fortbestehen der Gesellschaft unentbehrlich.

Beschäftigte im Pflegesektor haben die Öffentlichkeit während der Pandemie über die desaströsen Verhältnisse an ihren Arbeitsplätzen aufgeklärt und darauf aufmerksam gemacht, wie tief wir in der Pflegekrise stecken. Die Politik ändert an diesen Verhältnissen nichts. Vielerorts sind die Arbeiter*innen deshalb in den Streik getreten. Aktuell kämpfen 6 Uni-Kliniken in NRW für einen Entlastungstarif. Die Beschäftigten fordern mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Ausbildung.

Der Einsatz ungelernter junger Menschen durch den Pflichtdienst würde diese Zustände nicht verbessern, ganz im Gegenteil. Unter ähnlichen Verhältnissen müssten junge Menschen unter Mindestlohn arbeiten. Sie würden kostengünstig die Arbeitsbelastung etwas abfedern, doch gleichzeitig müssten sie für ihre kurze Dienstzeit eingelernt werden, was weiter Kapazitäten der Fachkräfte in Anspruch nehmen würde. Außerdem würde der Einsatz von Freiwilligen dazu beitragen die Pflege als Tätigkeitsbereich weiter abzuwerten und die tatsächlichen gesellschaftlichen Kosten zu verschleiern. Das Sozialwesen ist kein wirtschaftlich lukrativer Bereich, umgekehrt: es muss notwendigerweise durch den Staat finanziert werden. Dadurch wird es oft als ein gesellschaftlicher Randbereich abgetan dem weniger Gewicht zukommt als Wirtschaftsbereichen, die zum Wachstum beitragen. Dabei sollte gerade in der Pandemie klar geworden sein, wie wichtig funktionierende Gesundheitsversorgung, Pflege, Kindergärten und Schulen sind. Die Gewerkschaft Verdi hat sich gegen den Pflichtdienst ausgesprochen und auch große Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie und der Paritätische Gesamtverband sind dagegen.

Der Schaden, den die neoliberale Sozial- und Gesundheitspolitik angerichtet hat, kann nicht durch die Verpflichtung junger Menschen ausgeglichen werden. Das wäre ein Pflaster auf einer offenen Wunde. Sie zu heilen, bräuchte zu allermindest einen sozialpolitischen Kurswechsel – wenn nicht einen vollumfassenden Systemwechsel. 

Umsetzung bleibt unrealistisch

Es sehr unwahrscheinlich, dass aus dem Vorschlag des Bundespräsidenten mehr wird als die Empörung in den sozialen Netzwerken und eine Abhandlung dieser immer wiederkehrenden Debatte.

Steinmeier erhält vereinzelt Unterstützung von Abgeordneten. Laut CDU-Vorstandsmitglied Serap Güler, hat Steinmeier „weite Teile der CDU“ hinter sich. Aber Grüne und vor allem FDP stellen sich gegen den Vorschlag.

Obwohl ein Pflichtdienst im Endeffekt die Umwälzung sozialer Kosten bedeutet, müssten für seine Umsetzung wesentliche Mittel aus dem Bundeshaushalt geschaffen werden Diese Kritik wurde auch schon am Vorschlag der CDU 2018 angebracht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung errechnet, dass eine solche Pflicht den Staat bei einem Mindestlohn von 12€ pro Stunde, jährlich 15Mrd.€ kosten würde. Zwar ist es mehr als unwahrscheinlich, dass Jugendliche nach dem neuen Mindestlohn bezahlt würden, wenn man sich die aktuellen FSJ Sätze ansieht. Trotzdem wären die Kosten beträchtlich.

Die größte Hürde für die Einführung eines Pflichtdiensts, ist allerdings letztlich die rechtliche. Einem Gutachten des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags nach, verstößt die Einführung eines allgemeinen gesellschaftlichen und sozialen Pflichtdienstes gegen das Grundrecht der Freiheit von Arbeitszwang und Zwangsarbeit in Art. 12 des Grundgesetzes. Änderbar ist das Grundgesetzt nur durch eine 2/3 Mehrheit im Bundestag und Bundesrat. Diese scheint aber für das Vorhaben nicht zu bestehen. Außerdem ist Deutschland in dieser Frage durch die europäische Menschenrechtskonvention eingeschränkt.

Nicht mit Uns!

Auch wenn die Debatte um einen Pflichtdienst vielleicht wieder ohne politische Konsequenzen an uns vorbeizieht, sollten wir sie trotzdem im Blick behalten. Sie wird uns begleiten solange dieses System innenpolitisch, Krisen im Sozialwesen produziert und außenpolitisch, durch imperialistische Konflikte mit der Frage einer Wehrpflicht konfrontiert wird.

Wir sollten uns klar darüber sein, dass wir als junge Menschen und als Klasse kein Interesse an einem Pflichtdienst haben können.

Denn wie kann ein Dienst für die Gesellschaft sozial sein, wenn dieser nicht Selbstzweck ist, sondern Zwang und Mittel zur Aufrechterhaltung bestehender Ungerechtigkeit.

Luca studiert Politikwissenschaften und engagiert sich beim SDS und in der critica-Redaktion